Heiko

,,Was wünschen Sie sich, Frau Liebig?‘‘ Aber sie kann es nicht aussprechen. Er weiß es ohnehin. ,,Ich kann fliegen.‘‘, ermuntert Heiko. ,,Ich könnte Sie mitnehmen.‘‘

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Heiko

Heiko

An dem Nachmittag, der ihr Leben auf einen Schlag verändert, sitzt Frau Liebig auf der Couch und sieht fern. Nirgends wolle sie mehr hin, nicht einmal spazieren, beklagt ihr Mann ständig und bleibt dann auch zu Hause. Jedenfalls, ,,Julia‘‘, ruft ihr Mann, ,,Julia, warum liegst du da?‘‘ Und da erst fällt ihr auf, dass sie auf dem Teppich liegt, dass sie von einem Zustand – der Couch – in einen anderen Zustand – den verhassten Fusselteppich – geraten ist, aber den Übergang verpasst hat.

Dass nach dem Schlaganfall keiner mehr von ihr verlangen kann, aktiv zu werden, empfindet Frau Liebig als Erleichterung. Die Physiotherapeutin des Krankenhauses spricht von einem Wettlauf gegen die Zeit und von sinkenden Chancen, wenn die Rückeroberung der gelähmten linken Seite nicht auf der Stelle und mit voller Motivation in Angriff genommen werde. Frau Liebig denkt, endlich kann sie im Bett liegen, ohne sich rechtfertigen zu müssen, endlich muss sie nicht einmal mehr aufstehen. Bloß das Liderlüften am Morgen lässt sich noch nicht vermeiden.

Mitten in der Nacht wacht sie auf. Ein zweites Klopfen bestätigt, dass das erste zu keinem Traum mehr gehörte: Da wartet jemand vor ihrer Tür. Frau Liebig steigt über das Gitter des Krankenhausbettes, streicht sich den Patientenkittel glatt, tapst auf nackten Füßen über den kühlen, keimfreien Boden zur Tür und öffnet. Davor steht ein Chauffeur in samtig schwarzer Livrée mit roter Schirmmütze und hält ihr die Tür eines blank polierten, mit höflicher Zurückhaltung schnurrenden Rolls Royce‘ auf. ,,Gestatten, Heiko, Ihr Chauffeur an diesem Abend.‘‘, begrüßt er sie mit sonorer Stimme und führt eine elegante Verbeugung vor. ,,Das muss ein Irrtum sein.‘‘, sagt sie und schüttelt den Kopf. Heiko lächelt. Seine Zähne strahlen, er hat ein Lächeln wie die jungen Männer in den Werbungen. ,,Aber Sie haben mich doch selbst bestellt.‘‘, erwidert er. ,,Es ist ganz einfach: Sie schließen die Augen, ich fahre.‘‘ Frau Liebigs Blick streicht liebevoll über die dunklen Ledersitze des Wagens – wie gern würde sie sich einfach in eines der Polster sinken lassen, die Augen schließen und nie mehr öffnen! Da muss sie an ihren Mann denken, der morgen, wie jeden Tag, auf Besuch kommen wird. Als sie eine Entschuldigung murmelt und die Tür schließt, wagt sie nicht, Heiko in die Augen zu sehen, zu groß ihre Angst, dann nicht mehr zurück zu können. Kein Zweifel, er wird wiederkehren. Einer wie er akzeptiert so schnell keinen Korb.

Ein paar Tage darauf bringt man sie in ihr neues Zuhause. Heim, das: Die Auswahl möglicher Körperhaltungen eingedampft auf die Zahl Zwei, Sitzen oder Liegen. Heim, das: In der Dusche ein zusätzlicher Haltegriff, dessen quittengelbe Lackierung seine medizinische Natur bemänteln soll und sie doch nur umso schonungsloser hervorstellt. Heim, das: Nicht bloß einen zusätzlich angedübelten Haltegriff zu benötigen, sondern überhaupt nicht mehr ohne ein fremdes Händepaar in der Dusche bestehen zu können. Heim, das: Überall auf das fremde Händepaar angewiesen zu sein, u.a. auf der Toilette und bei allen drei Mahlzeiten. Heim, das: Auch in der Nacht, wenn man sich von Links auf Rechts drehen will. Heim, das: Die Frau im Gemeinschaftsraum, die nachmittagelang Sprudelflaschen kettenraucht und sich wie rituell vor und zurück wiegt und dabei monoton ihr Mantra rezitiert: ,,Nein nein nein nein‘‘. Heim, das: Herr Bahlsen beim Abendbrot, der ,,Bitte Butter. Bitte Butter.‘‘ stammelt, und Frau Liebig, die kontert: ,,Die Post ist zu.‘‘ Heim, das: Gummigedämpfte Krücken plus gummigedämpfter Boden, macht doppelte Dämpfung, assistierende Flurgeländer, orthopädische Schuheinlagen, Schongang. Heim, das: Ein Raum mit einer Vierergruppe Zugsitze, auf dem Bildschirm im Fenster die Strecke Basel-Stuttgart, Platz nehmen darf, wer sich eingesperrt fühlt oder einfach Reiselust verspürt, sogar ohne gültigen Fahrausweis. Heim, das: Eine Station namens ,,ParkinSonne‘‘.

Als Frau Liebig ihrem Mann von Heiko erzählt, der als Pfleger angeheuert hat, um für seine Lieblingspatientin die beste Behandlung zu garantieren, zieht ihr Mann die Mundwinkel nach unten. Anstatt dass er sich freut für sie, dass sie hier so schnell Freunde gefunden hat, zieht er einen Flunsch. Später versucht er ihr auszureden, was sie gesehen hat, und schiebt es auf den Schlaganfall. Mitten in seiner Litanei muss sie laut losprusten, zum Verwechseln ähnlich stiert Heiko, direkt über der Glatze ihres Mannes auf der Gardinenstange thronend, aus griesgrämigen Augenhöhlen Luftlöcher. ,,Du wirst schon wieder.‘‘, äfft Heiko ihn nach.

Auf der Station sorgt der junge Pfleger mit dem breiten Kreuz, den sauberen Fingernägeln und dem ordentlichen Scheitel für Furore. Keine, die sich nicht die Lippen nach ihm leckte und als Nächste dran sein möchte. Hat seine Hand einen einmal umschlossen, gibt es kein Entkommen mehr, aber man fühlt sich auch geborgen. Es ist ein Griff, der einem die Freiheit raubt, zu dem man aber auch Zuflucht suchen kann. Die Schuchert treibt es auf den Gipfel. Stakst vor seinem Büro auf und ab auf ihren Storchenbeinen, an denen die altersfleckige Haut schlackert. Ein paar Tage lang umwirbt sie ihn so, bis eines Morgens ihr Porträt in der Trauerecke hängt.

Gerade weil er jede haben könnte, verlangt es ihn besonders nach der einen, die sich ihm nicht hemmungslos an den Hals wirft. Ihr Zieren und ihr Pflichtbewusstsein schüren sein Begehren und lassen Frau Liebig zu seiner Obsession avancieren. Bald muss er bei jeder Gelegenheit ihre Nähe suchen. In der Nacht kauert er sich auf ihren Kleiderschrank oder legt sich ans Fußende ihres Bettes, wo er sich wie ein Vanillegipfel um ihre Füße krümmt, ja nicht aufdringlich möchte er sein.

Dreimal Umsteigen mit dem Bus und dreißig Gehminuten nimmt ihr Mann zweimal pro Tag in Kauf, um sie zu besuchen. Sie habe ja bloß ihn, erklärt er der gerührten Pflegerin. Und lässt weg, dass das auch umgekehrt gilt. Seit sie hier ist, berichtet seine Frau in einem fort von den neusten Taten dieses Pflegers, den sie erfunden haben muss, zumindest im Namensregister des Heimpersonals taucht er nicht auf. Ganz rot laufen ihre Wangen an wie bei einer Beichtenden auf dem Sterbebett, die unbedingt rechtzeitig alles loswerden muss. Die einzige Möglichkeit, noch zu ihr durchzudringen, sind Fragen über ihr gemeinsames Kindheitsdorf, mit 13 machte der Krieg sie zu Nachbarn: ,,Julia, wie hieß nochmal unsere Straße?‘‘ – ,,Kirschgasse‘‘, antwortet sie ihm zuliebe stets und hat den Test bestanden. Immer häufiger bleibt die Antwort aus. ,,Ah, Kirschgasse!‘‘, ruft sie, doch da ist schon Abendbrotzeit. Den ganzen Abend verfolgt es ihren Mann, wie seine Julia mit leuchtenden Augen in den Himmel gezeigt hat, hartnäckig, und er muss zusehen, wie die Krankheit sie Stück für Stück entführt.

,,Wo hast du denn die Loopings gelernt?‘‘, fragt sie Heiko, der auf die Fensterbank geklettert kommt, mit einer Rose zwischen den Zähnen. – ,,In der Pilotenschule. Gefällt Ihnen mein Flugzeug?‘‘ – ,,Es blinkt so schön rot.‘‘ – ,,Soll ich Sie mal mitnehmen?‘‘ – ,,Aber ich bin doch ans Bett gebunden, das weißt du doch.‘‘ – ,,Das ist Ihr Mann, Frau Liebig. Er hängt wie Blei an Ihren Füßen und hält Sie auf der Erde.‘‘

An ihrem Geburtstagsabend liegt sie wach, mit gespitzten Ohren. Sie weigert sich schlicht zu glauben, er habe nicht daran gedacht. Spielt da ein Saxofon? Sie steht auf und betritt den Flur, das Saxofon wird lauter, jetzt erkennt sie auch die Melodie: Happy Birthday. Da präsentiert ein einzelner Scheinwerfer eine Gestalt mit Melone. Er trägt Uniform, weiße Handschuhe und goldene Knöpfe, in denen sich bunte Ballons spiegeln. Schnipst dreimal aus der Hüfte, beim dritten Mal setzt die Kapelle ein, und alle in funkelnden Uniformen. ,,Heute geht es einmal nur um Sie!‘‘, ruft Heiko über die Musik hinweg. ,,Ihr ganzes Leben lang waren Sie für andere da, für Ihren Mann, für Ihren Sohn, für Ihre Enkel. Es ist Zeit, dass Sie einmal auch an sich denken, Himbeerkirschtorte?‘‘, und er reicht ihr ein Stück. ,,Ich weiß nicht.‘‘, fällt ihr bloß ein. ,,Doch, doch, Frau Liebig.‘‘, mahnt Heiko, schlingt einen Arm um ihren Rücken und hält ihr die Torte vor die Nase. ,,Doch!‘‘ Die Torte schmeckt herrlich. Von der Seite beobachtet er sie. ,,Aber Frau Liebig, warum weinen Sie denn?‘‘ Sie schüttelt bloß den Kopf. Unversehens steckt er sie unter seine Fittiche, seine Brust wölbt sich zu einer Höhle. ,,Zu Ihrem Geburtstag haben Sie einen Wunsch frei.‘‘, eröffnet er ihr. ,,Ich möchte Ihnen nämlich einen Wunsch erfüllen. Was wünschen Sie sich, Frau Liebig?‘‘ Aber sie kann es nicht aussprechen. Er weiß es ohnehin. ,,Ich kann fliegen.‘‘, ermuntert er. ,,Ich könnte Sie mitnehmen.‘‘

Ihr Zögern beunruhigt Heiko zunehmend und strapaziert seine Siegesgewissheit. Von nun an lasse er sie nicht mehr aus den Augen, nur zu ihrem Besten! Am Steuer eines Busses taucht ein kleiner Heiko auf, der auf dem Abschnitt vor ihrem Fenster verlangsamt und immer erst, wenn er einen Blick auf sie erhascht hat, weiterfährt, nur um pünktlich eine halbe Stunde später aus umgekehrter Richtung patrouilliert zu kommen. Im Garten traut sie ihren Augen kaum: Der Bengel dort, der soeben den ersten Ast der Douglasie erklommen hat, trägt unverkennbar Heikos Züge; oben steckt das Bürschchen sein Köpfchen aus den Nadeln und winkt ihr zu. Sowieso kreist sein roter Doppeldecker tags wie nachts über ihr. Und als sie sich umdreht, lugen seitwärts durch die Zimmertür, von unten nach oben: Der kleine, der mittlere, der große Heiko.

Eines Morgens blickt sie durch ihr Fenster, und da reihen sie sich wie Vögel auf den Ästen der Douglasie, so dicht, dass der Baum völlig verdeckt wird, bevölkern die Stromleitungen, von den Regenrinnen strahlen sie ihr zu, ein Schwarm kleiner, mittlerer, großer Heikos, und den ganzen Tag weichen sie nicht von der Stelle, bis es dunkel wird und Glaubensfrage, ob sie noch da sind. Dafür kitzeln zur Geisterstunde die Scheinwerfer seines schnaubenden LKW ihre Zimmervorhänge und Tumult bricht aus, auf seinen Pfiff hin strömen die Köche herbei und laden das Jagdwild aus, indes Heiko sich Gletschereis aus dem Bart bricht und nach jedem erfrorenen Barthaar brüllt, den Bären sollen sie unangetastet lassen, mit dem wolle er nicht umsonst einen einstündigen Kampf in der Fahrerkabine ausgetragen haben, einen stattlichen Fußabtreter für Frau Liebig wird er abgeben, damit er den preisgekrönten Humus des indischen Lotusbeetes ausstampfen kann, das er extra vor ihrem Fenster angelegt hat, wenn er zum selben hereinsteigt, um ihr die Fortsetzung ihrer Lieblingsoper vorzutragen, wofür er seit Neuestem Gesangsunterricht nimmt, wenn er nicht gerade Becki, die Brieftaube trainiert, endlich einmal ohne fremde Hilfe ihre Adresse zu finden, doch bevor es soweit kommt, überreicht er ihr höchstpersönlich mit feierlicher Geste den versiegelten Umschlag aus handgeschöpftem Papier mit den Flugtickets, denn sie wüssten das doch beide sehr genau, ,,dass Sie einmal in Ihrem Leben New York sehen wollen, und sei es das Letzte, was Sie sehen, und deshalb geht morgen unser Flug, und übermorgen erwarten uns schon zwei reservierte Plätze am Broadway!‘‘

Der Morgen der Abreise bringt eine sengende Hitze mit sich. Erst löscht die Höllenhitze alle Geräusche aus, um anschließend alles, was den kleinsten Verdacht auf Lebendigkeit erregt, einzuäschern. Einzig der schwarze Rolls Royce und sein Fahrer bleiben ausgenommen von der Zersetzung. Heikos wildlederbehandschuhte Hände halten der Dame die Tür auf. Seine Eleganz zwingt ihren Blick in die Knie. ,,Es geht nicht, mein Mann kommt gleich. Ich habe ihn geheiratet. Ihr Jungen versteht das nicht mehr, ich kann es euch nicht verübeln. Du musst ohne mich fliegen.‘‘ Er steht vor seiner Limousine mit laufendem Motor, in der Hand einen Blumenstrauß, die Vergissmeinnicht schon am Welken. Seine Stimme erzittert wie tote Mottenflügel: ,,Aber ich liebe dich doch.‘‘ – ,,Ich liebe dich auch.‘‘, sagt sie. ,,Es ist das Beste, wenn wir uns nicht wiedersehen.‘‘

Ihr Mann findet sie schweißüberströmt im Zimmer und ruft sofort den Notarzt. Nach dem zweiten Schlaganfall überfordern sie selbst das Sitzen und der Kirschgasstest. Seine Frau spricht kein Wort mehr und erzählt keine Geschichten mehr von Heiko. Manchmal, wenn die Stille besonders laut ist, ertappt er sich dabei, wie er Heiko zurückwünscht.

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