Frank

Dieser Text ist ein Fragment und fängt gerade erst an, seine ersten unsicheren Schritte zu machen. Er gehört zu einem viel längeren Text, der auch schon auf der Welt ist, aber gerade erst das Laufen lernt, damit er sie entdecken kann. Eines Tages, wenn er erwachsen geworden ist, wird aus ihm vielleicht ein Roman. Aber erwachsen wird man noch früh genug! Solange es noch nicht so weit ist, ist er ein Kind, und das ist auch gut so! Er soll spielen dürfen. Sich ausprobieren. Er soll sich überschätzen, hinfallen, kurz und heftig weinen und sich dann wieder aufrappeln und weiterspielen. / Zum Text

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Frank

Frank spielte die Perkussion und besaß einen mächtigen Bauch, über den sich stets ein verwaschenes Band-T-Shirt spannte, auf dem immer irgendwo ein Fleck prangte, und dieselben rautengemusterten Hosenträger. Sowohl den Hosenträgern als auch den Band-T-Shirts war anzusehen, dass ihr Besitzer ihnen bereits seit vielen Jahren treu blieb. Weiter oben wucherte ein zerzauster Vollbart, der nach Verwahrlosung aussah und dessen schimmliges Weiß um den Mund herum einen giftigen Gelbstich aufwies, von den Zigaretten, die er in den Pausen draußen vor der Tür kettenrauchte. Die Unterlippe hing schlaff herunter, als läge eine Kippe auf ihr. Die fettigen Haare hatte er, als existierte die Platte auf seinem Kopf nicht, hinten zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden; dort hingen sie wie ein vor Jahren krepiertes Haustier, von dem sich zu trennen er noch nicht übers Herz gebracht hatte. Wenn Amanda in ihren Spielpausen einen kurzen Blick über die Schulter warf, hätte sie den Mann hinter den Pauken, Becken und der Triangel für den Weihnachtsmann gehalten, wenn sie nicht gewusst hätte, dass er Rocker war. Als eine der ersten Informationen hatte Frank ihr vermittelt, dass er nur in diesem Orchester spielte, weil er das Geld brauchte. Eigentlich war er der Schlagzeuger der ,,Hell’s Bells“, seiner AC/DC-Tribute-Band.

Amanda mochte Frank. Wenn sich kurz vor ihrem Auftritt ihre Blicke trafen und er ihr mit beiden Augen zuzwinkerte oder wenn sie beobachtete, wie er sich mit dem Waschlappen, den er stets bei sich führte, den Schweiß vom Gesicht tupfte, spürte sie die Anspannung sofort abfallen. In den Pausen stellte sie sich gerne draußen vor der Tür zu ihm. Frank fiel immer eine lustige Anekdote ein, meist von einem seiner Schlagzeugschüler, die er tagsüber an der städtischen Musikschule unterrichtete. Er konnte aus nichts etwas machen, Amanda bewunderte das. Manchmal zeigte er ihr auch ein Video des letzten Konzertes der ,,Hell’s Bells“, und Amanda freute sich darüber, wie einfach sie seine traurigen Augen mit einem kleinen Kompliment zum Strahlen bringen konnte. Aber er wollte auch wissen, welche Sprachen sie alle in der Schule lerne und was für Tics ihre Lehrer hätten. ,,Ich wett‘, ‘s gibt da den ein oder and‘ren Lehrer, der dir g‘fallt.“, und er zwinkerte mit beiden Augen, damit sie verstand, dass er bloß scherzte. Deshalb willigte sie sofort ein, als er in einer jener Pausen feststellte, sie sollten Nummern austauschen.

***

Am folgenden Abend, sie las gerade ,,The Shining“ weiter, rief er an. Als sie auflegte, zeigte ihr Handy halb zwei. Müde und glücklich schloss sie die Augen und schlief sofort ein.

Von da an telefonierten sie fast jeden Abend. Wenn sie erst um kurz vor Mitternacht nach Hause kam, weil sich beispielsweise eine Probe mit dem Blasensemble, in dem sie außerdem spielte, länger gezogen hatte, rief sie trotzdem noch an, und wenn es wirklich zu spät war, schrieb sie eine SMS und lag wach, bis seine Antwort eingetroffen war. Ihre Gespräche waren so zur Gewohnheit geworden, dass sie, wenn sie fehlten, Schwierigkeiten hatte einzuschlafen.

Frank stellte ihr Fragen, auf die sie in ihren kühnsten Träumen nicht gekommen wäre. Bei welchem Musikstück sie einen Film vor sich sehe? Ab welcher Regenstärke sie das Rad stehenlasse und mit dem Bus zur Schule fahre? Was sie heute Mittag gegessen habe? Er ließ sich von ihr sogar den aktuellen Mathestoff erklären, oder was sie davon verstanden hatte. Nachdem er seine Frage gestellt hatte, wurde es am anderen Ende der Leitung still. Es wurde so still, dass Amanda Gänsehaut bekam. Am Anfang schob sie ein paar Wörter über ihre Lippen und verstummte mit brennendem Gesicht. Es war unmöglich zu überhören, wie fad das Gesagte klang – das bedeutungslose Geschwätz eines fünfzehnjährigen Schulmädchens.

,,Du bist nochmal zruck und host sie g‘frogt.“, wiederholte er nach ein paar Sekunden mit geduldiger Stimme.

,,Ja“, sagte sie gequält, ,,tut mir leid, dass ich dich langweile, ich-“

,,Langweil‘n?“, plärrte es aus dem Lautsprecher. ,,Jetzt hörst auf rumz’spinnen, Mädel, und hörst zu. Du könnt‘st mich goar nid langweil‘n, selbst wenn‘s würd’st wuin. Du bist die cleverste Fünfzehnjährige, die wo mia je unterkomm’n is‘. Und glaub‘ mia, mia ois Musiklehrer san scho so einige untergekumma.“ Amanda lächelte verlegen. ,,Woaßt‘, wos i g‘sogt hätt‘“, fuhr er in verschwörerischem Tonfall fort, ,,wenn diese Tatjana mi a fette Kuh g’nonnt hätt‘? I hätt‘ g‘sogt: ,Wenigstens hoab i Oiter.‘“ Amanda grinste. ,,Und etzad spann‘ mi ned länger af de Folter, Mädel, erzähl‘, wos host du‘s g’sogt?“

Er wollte genau wissen, was es mit ihrem Konflikt mit Tatjana auf sich hatte, und sie musste nichts dafür tun. Sie musste sich in kein Blümchenkleid schmeißen wie für ihren Vater, sie musste nicht den ,,Jugend musiziert“-Landeswettbewerb gewinnen und, sobald sie den ersten Platz geholt hatte, anfangen, für den Bundeswettbewerb zu üben. Ihre musikalischen Erfolge spielten, ganz im Gegenteil zu den Gesprächen mit ihrem Vater, eine Nebenrolle. Ohne dass Frank es aussprechen musste, wusste sie, dass sie die Oboe jederzeit an den Nagel hängen könnte – an ihrer Freundschaft würde das nichts ändern.

Als sie Frank erzählte, wie sie damals zu ihrem Vater hatte ziehen müssen und wie fremd sie sich gefühlt hatte, immer noch fühlte, war es nicht viel, was er dazu sagte. Ab und zu bat er sie, dieses oder jenes noch etwas genauer zu erklären, ansonsten schwieg er und hörte zu. Frank war der Erste, der sie verstehen wollte. Indem er zuhörte, gab er ihr zum ersten Mal das Gefühl, dass das, was sie zu erzählen hatte, wichtig war.

Sie ertappte sich immer öfter dabei, wie sie im Alltag an ihn dachte. Im Vorbeigehen schnappte sie einen Satz auf – ,,Hunde können auch Arschlöcher sein.“ -, und ihr erster Gedanke war, dass sie sich diesen Satz unbedingt merken und später Frank erzählen musste.

,,Bist du etwa verliebt?“ Triumphierend sah Michelle sie an.

Amanda stutzte. Sie hatte sich diese Frage noch nicht gestellt. Sie erschien ihr so abwegig wie die Frage, ob Michelle in ihren Vater verliebt sei. Sie brauchte sich nur seinen Bauch unter den Hosenträgern und seinen nikotingelben Vollbart vorzustellen, schon hakte sie die Frage glucksend ab. Doch während sie gluckste, durchströmte ihre Brust eine warme Dankbarkeit dafür, dass es ihn gab.

***

,,Meine Tochter ist verliebt! Sie telefoniert den ganzen Abend!“, flötete ihr Vater eines Morgens in der Küche. Amanda unterdrückte erfolgreich den Impuls, die Küche fluchtartig zu verlassen, und versteckte ihr Gesicht hinter der Kühlschranktür. Zu spät. ,,Und schon bist du rot wie eine Tomate!“, lachte ihr Vater. ,,Erzähl‘, wer ist der Glückliche?“

Für seine Freude darüber, sie in Verlegenheit gebracht zu haben, hasste sie ihn so sehr – am liebsten hätte sie ihm mit einem Lächeln direkt ins Gesicht gesagt: ,,Es ist Frank. Es ist dein Perkussionist.“ Mit Triumph hätte sie sich daran geweidet, wie ihm das Lächeln vergangen wäre. Damit hätte sie ihren Vater einerseits belogen, denn sie war ja nicht verliebt, schon gar nicht in Frank. Andererseits wäre es von der Wahrheit so weit auch wieder nicht entfernt gewesen, denn ihr war durchaus bewusst, dass einem über fünfzigjährigen Mann, der abends stundenlang mit der minderjährigen Tochter seines Dirigenten telefonierte, etwas Anrüchiges anhaftete. Nicht umsonst hatte Frank sie gebeten, das zwischen ihnen auch genau das bleiben zu lassen, eine Sache zwischen ihnen. ,,Das mit unser’n Mitternachtsplauschen“, so nannte er ihre abendlichen Telefonate, ,,das steckst besser nich‘ dei’m Vadder, sonst kimmt der noch auf dumme Ideen, nid woahr?“

Also vertiefte sie sich in die Zubereitung ihrer Frühstücksflocken und gestand ihrem Vater das Vergnügen zu, noch ein paar peinliche Neckereien zum Besten zu geben und ihr beharrliches Schweigen und Lächeln für Verlegenheit zu halten. Es war wie mit dem Gras: seine Unwissenheit verdoppelte das Vergnügen.

Von da an schlüpfte sie, wenn sie telefonierte, unter ihre Bettdecke.

***

Amanda schwang das rechte Bein über den Fahrradrahmen. Einbeinig auf dem linken Pedal rollte sie weiter über den Asphalt. Mit der Leichtigkeit einer Ballerina hüpfte sie vom Pedal, entließ ihren Drahtesel in die Freiheit, als wäre er ein Pferd, sprang mit großen Schritten neben ihm her und brachte es mit einem Griff auf den Sattel genau in dem Moment, in dem es über den Rand des Asphaltwegs hinausschießen wollte, zum Stehen. Jedes Mal, wenn sie dieses kleine Kunststück vollführte, machte ihr Herz einen Sprung. Zufrieden schob sie ihr Fahrrad auf den Trampelpfad, der an dieser Stelle abzweigte.

Zu ihrer Rechten, zwischen Bäumen und Büschen hindurch funkelte der Fluss. In den Gräsern, die ihr bis zum Bauchnabel reichten, vibrierten die Grillen. Schon nach wenigen Minuten, wie er gesagt hatte, kam ein Holzhäuschen in Sicht. Davor lagen alle möglichen Holzbalken, Baumstümpfe, Plastikstühle, Farbeimer, und dazwischen stand ein Liegestuhl, und darauf saß Frank.

,,Do schau her! Do wia a Zoaga! Willst wos dringa?“ Er tätschelte mit der Hand, die kein Dosenbier hielt, die Bierpalette, die neben ihm auf dem Baumstumpf thronte.

,,Hast du vielleicht eine Cola?“, fragte sie schüchtern.

,,Wo san mei Maniern!“, schnaubte Frank, nahm einen Schluck von seinem Dosenbier, wuchtete sich aus dem Stuhl und zog das speckige Metallica-Shirt, das über einen Großteil des Bauches hochgerutscht war, zurück nach unten. ,,Nur rein in de guade Stube!“

Mit einem Hieb auf einen Schalter brachte Frank eine nackte Funzel in Gang. Es roch nach Fisch und Terpentin. Er öffnete einen Kühlschrank, kratzte sich verlegen im Nacken, schloss ihn wieder und schaute in mehrere Schränke. Er bückte sich unter Tische, wobei seine Hose tiefe Einblicke gewährte, schob einen Sack mit leeren Bierdosen beiseite und verkündete: ,,Do isses joa!“ Triumphierend drückte er Amanda eine lauwarme Fanta in die Hand.

Sie gingen zurück nach draußen, er stellte ihr einen zweiten Liegestuhl neben seinen, sie setzte sich, schraubte die Fanta auf, wobei es keine Kohlensäure mehr gab, die entweichen konnte, trank einen Schluck, schraubte die Flasche zu und stellte sie auf die Erde. ,,Das ist also dein Chalet.“, sagte sie und bemühte sich, optimistisch zu klingen.

,,Des is mei Chalet.“, bestätigte er und brach in Tränen aus. Erschrocken starrte sie auf die dicken, schillernden Tränen, die über seine Hamsterbacken kullerten, bevor sie vom Bart aufgesogen wurden, und hörte seine Schluchzer. Nie zuvor hatte sie derartige Laute vernommen; sie klangen nicht wie ein Mensch, eher wie eine Robbe in Seenot, und sie schüttelten ihn durch, dass der Bauch unter dem T-Shirt gar nicht mehr zur Ruhe kam.

Eine Weile war Amanda zu verstört, um etwas zu sagen. ,,Aber was ist denn los?“, brachte sie schließlich heraus.

,,Ach“, seufzte Frank, und die Verzweiflung in seiner Stimme quetschte ihr Herz. ,,Schau‘ mi an, Amanda! I bi fett und sauf mitten am Dog Bier aus dea Bixn. Ois, zu wos i‘s brocht hob, is diese lausige Bruchbuden, wo noch Fisch stinkt, und a Band, wo auf irgendwelchen Ü50-Partys auftritt, der‘n Veranstalter ned des Diridaari fia wos Richtigs hom. Koa Wunder, dass mei Gisela scho voa langer Zeid des Weite gsucht hod. Verdieant hob ich’s! Die Gisela war vui zu guad fia mi.“

,,Aber das ist doch nicht wahr!“, widersprach Amanda empört. Sie beugte sich vor, zwang ihn, sie anzuschauen, und erklärte: ,,Du bist der großzügigste Mensch, den ich mir vorstellen kann.“

Zu ihrem Schrecken lösten ihre Worte einen neuen Weinkrampf aus. ,,Oh Gott!“, keuchte Frank, verschränkte die Arme vor der Brust und wiegte sich vor und zurück. ,,Ohgottogottogott! Du host kei Ahnung! Wia sollst a, du bist so jung, Amanda, du bist so- unschuldig! Sigst in jedem nur des Beste, du host so a großes Herz. Wia sollst du ahnen, wos im Schädel vo so am Sauhund, wia i’s bin, voa si gähd. Und wos mach i? Lock di hierher, um- Du host koane Ahnung, Amanda. A Sauhund bin i, a elendiger! Mei ganzer Leib is ned moi deinen kleinen Finger wert! Woaßt wos? Geh‘ jetzt. Zu dei’m eig’nen Besten, verlass‘ mi traurigen, oalden Sauhund.“

Amanda spürte ihr Herz in ihrer Brust wüten wie ein tollwütiger Vogel im Käfig. Sie hatte Frank für unumstößlich gehalten. Sie hatte geglaubt, nichts könnte ihn umwerfen. Umso ernster musste die Gefahr sein, die ihn jetzt in diesen Zustand versetzte. Der Schock, ihn weinen zu sehen, trieb ihr die Tränen in die Augen. Seine Worte machten ihr Angst. Ihr machte Angst, dass sie seine Worte zwar verstand, aber nicht begriff, was er meinte, und dass er wollte, dass sie ging, das vor allem. 

Sie blieb sitzen. Er schien auch nicht damit gerechnet zu haben, dass sie tatsächlich ginge.

,,Seit i mei Gisela ned meahr hab‘, hab‘ i koane Menschenseele meahr. I hab‘ scho so lang niemanden meahr umarmt. I würd so gern moi wieda jemanden umarmen.“

Amanda bemerkte ein Rauschen, von dem sie weder wusste, wie lange es schon da war, noch, ob es sich außerhalb oder innerhalb ihres Kopfes befand.

Er schaute sie mit Hundeaugen an. ,,Derf i di umarmen?“

Sie registrierte, dass er ihr noch eins, zwei, drei Sekunden Zeit gab, ihr Veto einzulegen, bevor er sich wie ein Himmelskörper vor die Sonne schob. Registrierte den Druck seiner Hände auf ihrem Rücken und den Geruch nach in Schweiß aufgelöstem Alkohol, doch da war es schon nicht mehr ihre Nase, die seinen Körper roch, und nicht mehr ihre Arme, über die seine Finger krochen wie Würmer. Es waren die Nase und die Arme und die Brüste eines fremden Mädchens, das Amanda aus drei Metern Höhe beobachtete. Dass etwas passiert war, realisierte sie erst, als sie feststellte, dass sie ihr Fahrrad über den Trampelpfad schob und die Grillen in den Gräsern aufgehört hatten zu zirpen. Als hätte es ihnen die Sprache verschlagen.