Ehrlich alleine

Katy hält nicht viel von Treue, Max sagt über seine Eroberung: „War nicht so geil.“ Joshua wird gefragt: „Wann war dein erstes Mal“. Beobachtungen aus der Generation Z
„Oh Gott, bitte kein Tequila!“, brüllt Katy und schaut uns mit einem verschwörerischen Grinsen von schräg unten an. „Der Tequila war schuld, als ich zum ersten Mal meinen Ex betrog!“. Ob mir als Einzigem auffällt, dass sie „zum ersten Mal“ gesagt hat? Man könnte ja meinen, das käme öfter bei ihr vor.
Katy – 21, Psychologiestudentin – heißt eigentlich Katharina, aber Katy, englisch ausgesprochen, klingt internationaler, wie die Katy Perry von I kissed a girl. Sie hat tatsächlich schon mal „was mit einer Frau gehabt“, wie sie auf der letzten Party erklärte. Mit Einzelheiten hielt sie sich bedeckt, sie wollte nur mal klarstellen, dass Katy sich nicht auf „hetero“ oder „homo“ reduzieren lässt, sondern sexuell offen, experimentierfreudig und an Erfahrungen den meisten anderen meilenweit voraus ist. Treue, findet sie, sei ein schwieriges Konzept, sie enge nur unnötig ein. Wer sage denn, dass man nur einen Menschen auf einmal lieben könne? „Das Schwierige an Beziehungen“, meint sie, „ist, dass man es immer gleich definieren muss.“ So weit wollte sie es auf keinen Fall kommen lassen, als sie nach vier Wochen in der neuen Stadt einen Typen kennenlernte. Auf meine Nachfrage, ob sie und er jetzt zusammen wären, erwiderte sie nachdenklich: „Da ist so viel in mir, das kann ich im Moment noch gar nicht beschreiben.“ Für nächtliche Besuche schien es zu reichen. Das überraschte mich ein bisschen, denn sie hatte mir kurz zuvor noch erklärt, gerade erst eine sehr komplizierte, sehr emotionale Beziehung hinter sich zu haben und noch viel zu aufgewühlt für etwas Neues zu sein.
„Jeder Mensch möchte geliebt und akzeptiert werden“, steht seit zwei Jahren in meinem Notizbuch, und der Satz passt gut zu meiner Generation. Alle suchen nach echter Liebe – einen Freund oder eine Freundin zu finden, wäre eigentlich schon kompliziert genug, müssten wir nicht noch allgemein erwachsen werden und dazu täglich hören, wir seien eine Generation der Narzissten, Selbstdarsteller, Beziehungsunfähigen, Vergnügungssüchtigen, Unpolitischen und Angepassten.
Um herauszufinden, ob das stimmt, mache ich mir ein eigenes Bild meiner Generation. Dabei genieße ich, im Vergleich zu den meisten anderen, den entscheidenden Vorteil, mittendrin zu stecken.
Ich bin 20, heiße eigentlich anders und studiere seit zwei Semestern Psychologie in einer deutschen Großstadt, die hier nicht genannt werden muss. Um meine Generation zu beschreiben, muss ich mich nur in meinem Freundeskreis umschauen und mir meinen Teil dazu denken. Es ist nicht alles genauso geschehen, wie es hier steht. Aber das macht es nicht weniger wahr.
Als ich Max das erste Mal begegnete, dachte ich, mit seiner leisen, zögerlichen Sprechweise, dem noch bartlosen, unschuldig-kindlichen Gesicht und dem langen, zweigartigen Körper habe er es auch nicht leicht. Umso überraschter war ich, als ein Freund mir erzählte, dass er „es faustdick hinter den Ohren hat“ und von der Semestereröffnungsparty mit einer Erstsemesterin verschwunden war. Das war, wie ich mit der Zeit mitbekam, nicht unüblich bei ihm. Seine WG-Mitbewohner stichelten öfters, seine Bettgeschichten hätten „pralle Hüften“ und „Tennisbälle“ anstelle großer, voller Brüste, so wie Brüste eben zu sein hätten. „Ja, die war auch nicht so geil“, sagte Max dann, damit seine Freunde nicht von ihm dachten, er stünde im Ernst auf solche Mauerblümchen. Aber ein paar Tage später fragte er sie per WhatsApp, ob sie Lust auf einen Spaziergang habe. Ihre Antwort: „Lass mal.“
Ein Mauerblümchen zu sein, das ist das, was Alina um jeden Preis verhindern will. Deshalb arbeitet sie Tag für Tag daran, genauso zu sein wie alle anderen. Sie fühlt sich wie ein Alien mit einer Maske, und es ist nur eine Frage der Zeit, bis sie auffliegt. Ständig ruhen alle Augen auf ihr, lauern bloß darauf, sie als Scharlatanin zu entlarven. Dass die anderen sehen, wie sie wirklich ist – das ist ihre größte Angst! Dann hätte sie niemanden mehr. Also trägt sie dieselben Schuhe wie alle anderen, hört dieselbe Musik, sagt „Yolo!“ wie alle anderen, und deshalb ist sie es auch in Gruppen, die am meisten lacht.
Seit Kurzem ist sie Studentin. In der Neon hat sie gelesen, im ersten Semester würden viele neue Liebespaare zueinander finden, und tatsächlich, beinahe alle ihre Kommilitoninnen haben nach einigen Wochen schon einen Freund. Wenn sie nicht schräg angeschaut werden will, muss sie sich auch einen anschaffen. Da kommt der Mitbewohner ihrer neuen besten Freundin genau richtig, er sieht einigermaßen aus und ist Single. Drei Wochen später kann sie endlich das Bild, auf dem sie ihn, ihren neuen Freund auf dem Balkon vor einem nächtlichen Lichtermeer küsst, auf Facebook hochladen.
Joshua wollte auch ein neues Selbst, und das hat er jetzt davon: „Wann hattet ihr euer erstes Mal?“ steht auf dem schmalen Zettel, den er gerade entfaltet hat. Ihm sitzen zwanzig Achtklässler gegenüber, die gerade ein „freches“ Theaterstück zum Thema Sex und Liebe gesehen haben. Danach wurden die Jungen und Mädchen aufgeteilt. Joshua leitet die Jungengruppe, zusammen mit Sebastian, einem Theaterkollegen.
Der Theatergruppe ist Joshua vor einigen Wochen beigetreten, um sich neu zu erfinden. Er hatte sich eine Art Programm verordnet, mit dem er seine Introvertiertheit abtrainieren würde. Anstatt, wie bisher, immer nur anderen dabei zuzuschauen, wie sie den Ruhm einheimsten, wollte er jetzt selbst gesehen werden! Wenn er ein interessanterer Mensch wäre, dann würde es vielleicht endlich auch mit der Freundin klappen, dachte er.
Er hatte das Abitur in der Tasche und die Welt war voller Möglichkeiten, man musste sie nur ergreifen, so wie die Jugendlichen in seinem Team. Sie waren laut, lustig, draufgängerisch. Aufmerksam beobachtete er diese jungen Schauspieler, um von ihnen zu lernen. Mit der Zeit aber wuchsen die Zweifel. Die geforderte Coolness wollte sich einfach nicht bei ihm einstellen. Jetzt sitzt er hier im Klassenzimmer.
Hauptsächlich redet Sebastian. Joshua versucht zwar, auch etwas beizutragen, die meiste Zeit verläuft die Diskussion jedoch sehr schleppend. Er fühlt sich unmündig. Die etwa zwanzig Schüler sind 15, 16, nur drei Jahre jünger als er – aber für sie ist er bereits erwachsen, hat eine Schwelle überschritten, die sie noch vor sich haben. Sie glauben, dass er all die Erfahrungen, die ihnen Kopfzerbrechen, Sorgen, Ängste und gelegentlich Selbsthass bereiten, schon „in der Tasche“ hat. Dabei fühlt er sich wie sie.
Jeder Junge darf eine Frage an Sebastian und Joshua stellen, anonym per Zettel. Abwechselnd ziehen die beiden Fragen und gestehen Rede und Antwort: „Wann hattet ihr euer erstes Mal?“ War ja klar, dass die Frage kommt, denkt Joshua. Schon seit Tagen hat er darüber nachgedacht, wie er darauf reagieren soll. Dabei war die Antwort von Anfang an klar: Lügen kann er nicht. Das würde jeder sofort merken und es wäre erbärmlich. Gar nicht zu antworten ist auch keine Option. Bleibt die Wahrheit.
Wie werden diese Worte über seine Lippen kommen können? Seine Stimme wird versagen, denkt er. Jetzt hat er schon ziemlich lange gezögert. Laut wiederholt er die Frage – „Willst du anfangen?“, fragt er Sebastian. Der erzählt: 16 war er, mit seiner damaligen Freundin. Fertig. Joshua ist dran. Wie etwas Auswendiggelerntes spricht er Wort für Wort und staunt am Ende, dass es einen sinnvollen Satz ergibt: „Ich hatte mein erstes Mal noch nicht.“
Angelo, der Coolste der Klasse, der vorher am meisten geredet und betont abgebrüht erzählt hat, was er alles schon durchprobiert hat, prustet los.
„Das ist nicht schlimm und da gibt es auch kein festes Alter für“, sagt Sebastian. Angelo kriegt sich kaum ein. Starr sitzt Joshua da, das rechte Bein übers linke geschlagen, ein angestrengtes Lächeln auf den Lippen. Den Rest der Stunde sieht er den Schülern in die Augen, auch Angelo, obwohl er sich zwingen muss. Als es endlich zur Pause klingelt, fühlt er sich, als habe er gerade sein Leben gerettet.
Ich bin Joshua. Und nachdem meine Schauspielerkarriere allzu schnell wieder zu Ende gegangen ist, bleibt vor allem diese Frage: Stimmt etwas nicht mit mir, weil ich nicht so sein kann wie alle anderen?
Diese Frage stellen sich sicher auch Katy, Max, Alina und Sebastian. Aber wenn ich die anderen beobachte, habe ich den Eindruck, dass sie sich ein Stück weit selbst verleugnen, um dazuzugehören. Das will ich nicht. Und vielleicht kann ich froh sein, dass es mir so schwerfällt.
„Jeder Mensch will geliebt und akzeptiert werden – so wie er ist.“, ergänzte ich in meinem Notizbuch, und rasch füllte es sich, bis ich es vor Kurzem verloren habe. Seitdem stelle ich mir ab und zu vor, wie jemand es findet. Wenn er die ersten Sätze liest – was wird ihm durch den Kopf gehen? Es käme ihm vielleicht so vor, als könnten diese Notizen genauso gut auch von ihm stammen. Vielleicht wird er sich fragen, wer diese Person ist, der die gleichen Fragen durch den Kopf gehen wie ihm. Und unterwegs fühlt er sich den Menschen viel näher als sonst: Hat sie das Notizbuch verloren? Hat er das geschrieben? Oder du?
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