Die Gruppe

Ein Badezimmer in schummrigem Neonlicht, eine junge Frau mit üppigem Lockenkopf, sie vollführt Gesten, die für sie magische Kraft besitzen. Mit einem Ruck kommt das Gesicht der Frau, die filmt, ins Bild. Asketische Züge, Kurzhaarfrisur, ebenfalls kaum älter als 20. ,,Hier“, sagt Ronja* und hält die rechte Wange in die Kamera. ,,Hier hat sie mich geschlagen, gerade eben!“ – ,,Ich bin sechs Jahre alt.“, murmelt die Täterin, Amanda. ,,Nein, bist du nicht!“, weist Ronja sie zurecht. ,,Wir alle haben als Kind viel Scheiße durchgemacht, aber jetzt sind wir erwachsen und können unsere Traumata aufarbeiten, ohne zurück in die kindliche Rolle zu fallen.“ So redet Ronja weiter auf Amanda ein, als wäre Amanda ein unartiges Kind und nicht akut psychotisch. Im nächsten Video sind Amandas Hände mit einem Seil an den Handtuchhalter gefesselt.
Drei Jahre sind seit der Gruppe vergangen. Drei Jahre, in denen der zeitliche und räumliche Abstand Amanda geholfen haben besser zu verstehen, was ihr da eigentlich genau passiert ist. Und doch stößt ihr Verständnis immer wieder an Grenzen. Deshalb ist Amanda sofort einverstanden, als ich sie frage, ob ich ihre Geschichte aufschreiben darf.
Kennengelernt haben Amanda und ich uns vor acht Jahren in der Theater-AG, bis heute verbindet uns unser Interesse für Psychologie. Während ich an der Universität Freiburg (Schweiz) Psychologie studiert und seit April 2022 als Psychotherapeut in Ausbildung mit Menschen mit Psychose arbeite, hat Amanda am eigenen Leib erfahren, was eine Psychose ist.
In unseren zahlreichen Gesprächen hat Amanda sich so genau wie möglich an die Gruppe erinnert. Auch wenn sie dafür auf Videos, Fotos und Chatverläufe zurückgreifen kann – die Erinnerung bleibt immer subjektiv, fehleranfällig. Gerade wenn es – wie bei einer Psychose – um Zustände geht, in denen die Wahrnehmung stark verändert war. Dieser Text will Amandas Geschichte erzählen, ohne Anspruch auf Objektivität und Vollständigkeit zu erheben. Zugleich ist diese Geschichte kein Einzelfall. Diese Geschichte gehört Amanda, aber die psychologischen Mechanismen, um die es geht, sind allgemeingültig.
Im Sommer 2019 ist Amanda 21 Jahre alt und seit zwei Jahren auf Reisen. Nach dem Abi endlich frei, sucht sie das Weite, reist nach Marokko zum ,,Rainbow Festival“, nach Israel zum Kibbuz. Als sie im Juli 2019 die jungen Erwachsenen sieht, die sich nach dem ,,Move Utopia“-Festival in Sachsen-Anhalt weigern, das Gelände zu verlassen, und sich an Bäume ketten, ist Amanda fasziniert von deren Selbstsicherheit. Während sie selbst nach Orientierung sucht, scheinen diese Menschen genau zu wissen, was sie wollen, und bereit, etwas dafür zu riskieren. Wie sie erfährt, leben die Rebellinnen – es sind vor allem Frauen – im Schrebergarten in einer Gemeinschaft. Kurzerhand mietet Amanda dort eine Hütte. Dass die Jahresmiete nur 135 Euro beträgt, gibt den Ausschlag.
Nicht lange, schon betritt Amanda eines Nachmittags auf Einladung der ,,Hippiekommune“ deren Garten. Buddhas mit rostiger Haut meditieren neben moosigen Shivas inmitten von ausrangierten Möbeln, Essabfällen, Turnschuhen. Amanda, barfuß, muss aufpassen, wo sie hintritt, überall sind Scherben. Dann tritt sie ins Licht. In einem Raum voller Kerzen sitzen um einen Altar zwölf Personen und lauschen einem Mann. Stumpfbraune Haare, Dreitagebart – auf der Straße wäre er Amanda nicht aufgefallen. Doch die Selbstsicherheit, mit der er spricht, flößt ihr auf Anhieb Ehrfurcht ein. Aus seinem Mund klingen sogar die ,,und“-s bedeutungsschwer, er redet ohne Punkt. Wie Amanda noch erfahren wird, kann Andrej einen stundenlang berieseln. Es ist nicht leicht, ihm zu folgen, vom Materialismus springt er zur Astrologie und weiter zur Tiefenpsychologie, statt ,,beschleunigen“ sagt er ,,akzelerieren“. Aber das macht nichts, seine durchdringende Stimme, mit der er über die großen Fragen referiert, über die sie auch oft nachdenkt, vermittelt Amanda das Gefühl von Sinn. Und falls sie noch zweifelt, muss sie nur in die leuchtenden Augen der Zuhörerinnen schauen.
Noch am selben Nachmittag wird Amanda Zeugin einer Heilung durch Handauflegen. Während sie beobachtet, wie Smilla unter Giulias Händen zu zucken anfängt, fragt sie sich, in was für einer Sekte verrückter Esoterikerinnen sie hier gelandet ist. Aber könnte nicht doch etwas dran sein? Sie hat sich schon immer nach Spiritualität gesehnt, die sie in der materialistischen Gesellschaft des 21. Jahrhunderts bisher vergeblich gesucht hat.
Bis auf eine Ausnahme besteht Andrejs Gemeinschaft aus Frauen, alle Anfang 20, alle Abiturientinnen. Zu enge, gar sexuelle Beziehungen zwischen den Mitgliedern missbilligt Andrej, sie störten den Gruppenzusammenhalt. Er selbst hat mit zwei Frauen jeweils ein Kind. Für die Kindererziehung sind alle zuständig. Inzwischen haben beide Frauen ihn verlassen.
Amanda erfährt bald, dass nicht jeder, der möchte, mitmachen darf. Interessierte Neue, die Andrej aus Gründen, die nur er kennt, nicht passen, verabschiedet er nach dem Abendessen freundlich, aber bestimmt. Umso geehrter fühlt sich Amanda, dass sie bleiben darf. Vielleicht findet sie hier die Familie, die sie nie hatte. Ihr Vater verließ ihre Mutter kurz nach ihrer Geburt, ihre Mutter leidet an Paranoider Schizophrenie, Amanda musste früh erwachsen werden, zog mit 16 in eine betreute WG.
Wer ein relaxtes Hippieleben erwartet, den belehrt Andrej rasch eines Besseren und holt ihn, wenn nötig, nachts um halb eins aus dem Bett. Man soll sich erst ,,seinen Themen stellen“, bevor man schlafen darf. Es geht um nichts Geringeres als die eigene Wahrnehmung von allen Verzerrungen zu bereinigen und sein wahres Ich freizulegen. Dafür müssen sie sich selbst permanent hinterfragen, jeden Gedanken, jedes Gefühl darauf abklopfen, ob es authentisch ist oder nur ,,getriggert“ wurde, durch Umgebungsreize, durch Traumata in der Kindheit. Die von allen am wenigsten getriggerte Wahrnehmung besitzt Andrej, also hat Andrej immer das letzte Wort.
Jede innere Veränderung, und wenn sie noch so klein ist, muss registriert, reflektiert und vor allem geteilt werden. Es herrscht totale Transparenz, Privatsphäre gibt es nicht. Etwas für sich zu behalten, heißt Verrat an der Gruppe. Während sie alle wie auf dem ,,heißen Stuhl“ ihr Innenleben lückenlos offenlegen müssen, hält Andrej sich bedeckt. Viel mehr, als dass er einen Bachelor in Anthropologie und Erziehungswissenschaften hat, gibt er nicht preis. Auf die leere Fläche können seine Anhängerinnen alle Sehnsüchte projizieren. Egal wie ausführlich Andrej seinen Jüngerinnen etwas erklärt, stets scheint er etwas zurückzuhalten, sie nur an einem Bruchteil seines Wissens teilhaben zu lassen. Wenn er gerade gar nicht antwortet, dann nicht aus Unlust, sondern weil er in höheren Sphären Wichtigeres zu tun hat.
Das ständige Selbsthinterfragen führt nicht nur dazu, dass Pläne nie über das Reflexionsstadium hinauskommen, es entzieht einem auch den Boden unter den Füßen. Ein flüchtiger Gedanke, über den Amanda früher die Schultern gezuckt hätte, nimmt durch die Aufmerksamkeit, die sie ihm schenkt, existenzielle Ausmaße an. Die zwanghafte Suche nach ,,Triggern“, um der eigenen Wahrnehmung auf die Schliche zu kommen, nimmt die naturgesetzlichen Grenzen nicht allzu ernst. Wenn man ein vages Unwohlsein verspürt, ist es durchaus angezeigt, das Gespräch der beiden anderen im Raum zu unterbrechen und gemeinsam zu eruieren, inwiefern das Unwohlsein von deren non-verbalem Verhalten verursacht wurde. Das magische Denken stellt überall Zusammenhänge her, löst die Grenzen zwischen Innen und Außen auf. Bald weiß Amanda nicht mehr, wo sie selbst aufhört und die anderen anfangen. Die Gruppe hat die Spielregeln um 180 Grad verkehrt. Was draußen verrückt ist, wird hier alltäglich.
Die extreme Nähe, die Selbstzweifel, das innere Panoptikum, der Schlafentzug – die Bedingungen in der Gruppe bedeuten massiven Stress. Als Amanda eines Morgens – sie ist gerade einmal eine Woche hier – den Raum betritt, halten die anderen sie für erleuchtet. Sie ist überzeugt, ihre telepathischen Fähigkeiten entdeckt zu haben, mit Gott kommunizieren zu können. Die Sonne zwinkert ihr nicht sprichwörtlich, sondern buchstäblich zu. Kurz darauf greift die Polizei sie mitten auf der Landstraße auf. Sie war unterwegs zum Krankenhaus, um das Geheimnis von Leben und Tod zu lüften. Die Polizei bringt sie in die Klinik, allerdings nicht ins Krankenhaus, sondern in die Psychiatrie.
Später wird sie sagen, dass die sechs Tage Gefangenschaft in der Gruppe immer noch besser gewesen seien als diese ersten sechs Wochen in der Psychiatrie. Man stellt sie mit Medikamenten ruhig, Therapiegespräche hat sie keine. Die Oberärztin, die jeden Morgen zur Visite ins Zimmer kommt, macht keinen Hehl aus ihrer Unzufriedenheit mit Amandas Leistungen in ihren Wahrnehmungstests. Nach fünf Wochen darf sie zum ersten Mal draußen spazieren gehen.
Nach ihrer Entlassung kehrt sie zur Gruppe zurück und legt ihre Medikamente und Arztpapiere auf den Altar. Gemeinsam lachen sie darüber.
Kurz darauf erblickt ein Nachbar Amanda auf dem Dach ihrer Hütte, ohne Kleider. Sie glaubt, eine Verabredung mit dem Mann zu haben, den sie liebt, stattdessen kommt die Polizei und bringt sie wieder in die Klinik.
Diesmal darf sie nach zwei Wochen gehen. In der Zwischenzeit hat die Gruppe, auch auf Druck der Nachbarn, den Schrebergarten gegen eine Wohnung eingetauscht. Als Amanda zum dritten Mal psychotisch wird, reagiert die Gruppe genervt. Sie interpretieren ihre Krankheit als Widerstand, der gezähmt werden muss, fesseln Amanda und halten sie im Keller fest. Sie spielen Psychiatrie, allerdings nach ihren eigenen Regeln. Statt mit Psychopharmaka und -therapie behandeln sie mit Handauflegen und Energiearbeit. Amanda ist zu diesem Zeitpunkt unzurechnungsfähig, ein Teil von ihr glaubt ihnen, dass sie nur ihr Bestes wollen. Die Grenzen zwischen spielerischem Trotz und ernsthafter Gegenwehr verschwimmen. Äußert sie einen Wunsch, macht die Gruppe das Gegenteil, ihr Wille müsse gebrochen werden. Freut sie sich auf das Mittagessen, bekommt sie für extra keins.
Nach sechs Tagen lassen die Symptome nach. Damit sie gehen darf, muss sie eine Erklärung unterschreiben: sie verzichte auf rechtliche Schritte gegen die Gruppe.
Eine Unterschrift unter Zwang ist zwar nicht rechtsgültig. Allerdings muss man den Zwang erst einmal beweisen können. Ein Versuch, Andrej vor Gericht das Handwerk zu legen, scheitert. Eben hat Amanda ihren Ex-Freund Robin, ebenfalls Mitglied, noch angefleht, sie zu befreien, vergeblich. Schon wird Robin selbst vom Täter zum Opfer, tagelang lässt ihn die Gruppe nicht aus ihrer Wohnung. Es ist Robin, der die Anzeige gegen Andrej initiiert, Amanda und Giulia schließen sich an. Auch Giulia hat sich inzwischen von der Gruppe distanziert, in einer langen Nachricht bittet sie Amanda um Entschuldigung für ihre Beteiligung an der Freiheitsberaubung und will aufarbeiten. Sie übermitteln der Polizei ihre Zeugenaussagen und jene Videos von Amandas Gefangenschaft, die mit Robins Handy aufgenommen wurden – bei Weitem nicht alle Videos, doch die anderen befinden sich auf dem iPad der Gruppe, unzugänglich. Weiter kommt das Verfahren nicht, die Beweise seien zu vage. Andrej muss nicht einmal seine Drohung mit Gegenanzeige wahrmachen. Es klingt zynisch, doch aus juristischer Sicht scheint zu wenig passiert zu sein.
Ist die Gruppe schuld an Amandas Psychose? Anders gefragt: wäre Amanda auch ohne die Gruppe psychotisch geworden? Das sogenannte Vulnerabilitäts-Stress-Modell vergleicht die Psyche mit einem Fass. Protektive Faktoren, zum Beispiel Freundschaften, senken den Wasserpegel. Vulnerabilitätsfaktoren wie beispielsweise eine genetische Veranlagung – die Erkrankung eines Verwandten ersten Grades erhöht das Schizophrenierisiko, in der Allgemeinbevölkerung ein Prozent, um den Faktor vier – steigern den Pegel. Je höher der normale Wasserstand, desto weniger Stress reicht aus, um das Fass zum Überlaufen zu bringen. Die Gruppe war nicht die Ursache. Doch sie bot ,,ideale“ Bedingungen, um in Personen, die entsprechend vulnerabel sind, Psychosen auszulösen.
Vermutlich beginnt der Prozess bereits vorher, indem die Gruppe eher Personen anspricht, die eine Affinität für magisches Denken und gegebenenfalls eine erhöhte Vulnerabilität für Psychosen mitbringen. Dafür würde sprechen, dass Amandas Geschichte kein Einzelfall ist. Allein in dem halben Jahr, das sie in der Gruppe lebte, wurde Amanda Zeugin zwei weiterer Psychose-Fälle. Ein Mann sei schon psychotisch gekommen und von einem Tag auf den andern wieder verschwunden. Einen anderen besuchten sie in der Psychiatrie, nachdem er bei ihnen psychotisch geworden war.
Dezember 2022. Ein Jahr liegt Amandas letzter Klinikaufenthalt zurück. Es hat seine Zeit und einige schmerzhafte Erfahrungen gedauert, doch in der letzten Klinik konnte Amanda ihren Frieden mit der Psychiatrie schließen. Zum ersten Mal waren dort Fachleute, die nicht nur ihre Diagnose, sondern ihre ganze Person in den Blick nahmen. Seitdem nimmt sie regelmäßig ihre Medikamente und sieht in regelmäßigen Abständen ihre Therapeutin.
Doch es wäre zu einfach zu behaupten, jetzt, mit dem nötigen Abstand, hielte sie die Gruppe für eine gefährliche Sekte. Obwohl sie weiß, wie es ausgegangen ist – ein Teil von ihr sehnt sich zurück nach diesem Gefühl, das die Gruppe vermitteln konnte. Die Gemeinschaft, die Offenheit für spirituelle Erfahrungen, der Versuch, sich selbst besser zu verstehen, das tabulose Sprechen über schwierige Gefühle, Ängste, Traumata – das alles hat sich viel zu echt angefühlt, um es als Manipulation oder Schwindel abzutun. Und wie fahrlässig und kriminell deren Umgang mit der Psychose auch war, eines hatten sie der Psychiatrie voraus. Während Amanda oft genug erlebt hat, wie Psychiater ihr psychotisches Erleben auf etwas reduzierten, das krank ist und so schnell wie möglich weg muss, ging die Gruppe auf den Inhalt ihrer Psychose ein und versuchte zumindest, sie zu deuten und damit in die Alltagsrealität zu integrieren.
Die Gruppe, sagt Amanda, ist wie Heroin. Hat man es einmal erlebt, will man es immer wieder.
Hat dir der text gefallen?
Teilen mit:
- Klicken zum Ausdrucken (Wird in neuem Fenster geöffnet)
- Klick, um über Twitter zu teilen (Wird in neuem Fenster geöffnet)
- Klick, um auf Tumblr zu teilen (Wird in neuem Fenster geöffnet)
- Klicken, um auf WhatsApp zu teilen (Wird in neuem Fenster geöffnet)
- Klick, um auf Facebook zu teilen (Wird in neuem Fenster geöffnet)