
,,Keine Freude''
Das erste kurze Gespräch mit Herrn F. ergab sich nach der Gruppentherapie, für die er jeden Mittwoch in die Psychiatrie kam, wo ich Praktikum machte. Herr F. zeigte auf den gepflasterten Weg und sagte: ,,Heute sind viele Eidechsen unterwegs.‘‘
Das stimmte, es war August, Hochsommer, und die heißen Steine boten ein Paradies für Eidechsen. Jeder Schritt löste eine Kaskade zuckender Schwänze und Körper aus, die in Spalten und Ritzen Zuflucht suchten. Allerdings war ihre Existenz an mir vorbeigegangen bis zu jenem Nachmittag, da Herr F. meinen Blick auf sie lenkte. ,,Mal schauen, ob ich noch ein paar sehe.‘‘, meinte er und verabschiedete sich. Ich blickte ihm nach, wie er dem Pflasterweg folgte, noch langsamer als sonst, um ja keine Eidechse zu verpassen, und hörte seine Stimme leiser werden, die immer dieselben unverständlichen Worte murmelte wie ein Mantra.
Seit dieser ersten kurzen Begegnung mit Herrn F. gehe ich den Pflasterweg nicht mehr, ohne nach den Eidechsen Ausschau zu halten. Herr F. hat mir gezeigt, wenn man so etwas wie jungen Eidechsen im Sommer nicht die gebührende Achtung schenkt, ist man selbst schuld.
Ein Vierteljahr liegt das zurück; drei Monate, in denen ich Herrn F. jeden Donnerstag in der Gruppe und auf den fünf Minuten gemeinsamen Wegs danach immer näher kennenlernen durfte. Er erzählte mir, dass er trotz seiner Konzentrationsprobleme den Inhalt seiner Bücher behalte, weshalb man ihn wohl einen ,,Büchercasanova‘‘ nennen könne, denn im Gegensatz dazu habe Casanova zwar viele Frauen gehabt, davon aber keine behalten können. Aus dem Faust zum Beispiel konnte Bernd F. ganze Passagen auswendig zitieren, nicht ohne sie da und dort leicht abzuändern: ,,Ich bin der Geist, der stets verneint. Ein Teil von jener Kraft, die stets das Böse will und stets das Gute schafft. Bevor Ihr mich Satan schimpft, nennt mich Bernd geschwind.‘‘ Er brachte mich mit seinen selbst ausgedachten Rätselfragen an meine Grenzen und willigte schließlich ein, dass ich ein Diagnostisches Interview mit ihm führte. So lernte ich auch seine Geschichte kennen. Und je mehr ich darüber erfuhr, desto stärker hatte ich das Gefühl, dass diese Geschichte es verdient, erzählt zu werden.
Da ist zunächst Herrn F.s. Persönlichkeit, seine unkonventionelle Art, sein Humor, die einen bleibenden Eindruck bei mir hinterlassen haben. Doch darüber hinaus ist die Geschichte von Herrn F. auch eine Geschichte über psychisches Leid und was das eigentlich ist, eine ,,psychische Störung‘‘. Man kann diese Geschichte nicht anhören, ohne zwangsläufig vor der Frage zu stehen, wovon wir sprechen, wenn wir von ,,Schizophrenie‘‘, ,,Depression‘‘ oder ,,Persönlichkeitsstörung‘‘ sprechen.
An dieser Stelle ist es mir wichtig zu erwähnen, dass dieser Text mit dem ausdrücklichen Einverständnis von Herrn F. erscheint. Dafür, dass er diesen Text möglich gemacht hat, bin ich ihm aufrichtig dankbar. Es bleibt noch zu überlegen, wie ich mich dafür bei ihm, zumindest symbolisch, revanchieren kann. Vielleicht wieder mit einer Rittersport-Pfefferminz, seiner Lieblingsschokolade? Oder endlich mit einer echten deutschen Zwiebelmettwurst und einer Streuselschnecke, wie sie zu seinen Berliner Zeiten in den Metzgereien und Bäckereien auslagen und wie er sie hier in der Schweiz bislang vergeblich gesucht hat?
Kindheit
Aufgewachsen ist Herr F. – heute Mitte 50 – in West-Berlin. Mit einer dominanten Mutter, die mit Gewalt geherrscht habe, einem älteren Bruder, den seine Mutter ihm vorgezogen habe, und einem nachgiebigen Vater mit Alkoholsucht – ,,wegen deiner Mutter‘‘, wie der Vater ihm erklärte. Nicht nur körperliche Gewalt habe es gegeben, sondern auch sexuelle Übergriffe seitens der Mutter. ,,Viel Gewalt‘‘, so fasst Herr F. seine Kindheit zusammen. Bei dem Wort ,,Familie‘‘ zuckt er zusammen.
Sinnbildlich für Familie, wie Herr F. sie kennt, steht vielleicht die Tischtennisplatte. Die habe im Garten gestanden, ,,aber auf die Idee, man könnte ja miteinander spielen, nicht immer nur gegeneinander, ist natürlich niemand gekommen.‘‘ Die Erledigung seiner Hausaufgaben findet stets unter Aufsicht der Mutter statt. Weil es der meistens zu langsam geht, treibt sie ihn mit ,,Mach, mach, mach!‘‘ an, nimmt seinen Kopf bei den Haaren und donnert ihn auf die Tischplatte. Tränen versperren ihm daraufhin die Sicht.
Später verschweigt er der Mutter, dass er Hausaufgaben aufhat, um sie dann abends unter der Bettdecke mit Taschenlampe allein lösen zu können, ,,in der ständigen Angst vor einer Strafe, die jenseits seiner Vorstellungskraft läge‘‘. Für einen so entstandenen Aufsatz wird er von der Lehrerin gerügt.
Die Angst, etwas falsch gemacht zu haben und daraufhin bestraft zu werden, begleitet ihn bis heute. Während die Leiterin der Gruppentherapie mit einem anderen Praktikanten und mir kurz noch etwas bespricht, wartet Herr F. vor dem Raum. Als ich ihn anschließend frage, wie es ihm gehe, antwortet er: ,,Angst‘‘. Er habe befürchtet, wir Praktikanten würden ausgeschimpft.
Als eines der anderen Kinder sich erkundigt, woher er sein blaues Auge habe, schämt er sich, denn er glaubt, er sei selber schuld. Wenn die anderen Kinder klingeln und fragen, ob der Bernd (Name geändert) runter zum Spielen komme, heißt es, der müsse noch seine Aufgaben machen. Nach einer Weile hören die Kinder auf, nach dem Bernd zu fragen. ,,Während die anderen Kinder spielten und somit spielerisch den Umgang mit Menschen lernten, war ich in meinem privaten KZ und konnte an diesem Lernprozess nicht teilnehmen.‘‘ In sozialen Situationen ungeübt, fällt er auf, bleibt Außenseiter und wird Opfer von Hänseleien. Auf einem Klassenlager beim Essen hält er Messer und Gabel immer noch in der Faust wie ein Kind, woraufhin ein Mädchen ihm ins Gesicht sagt, er esse ,,wie ein Schwein‘‘. In der großen Pause präsentieren die Schülerinnen und Schüler einander ihre neuesten Bücher; nur wenn der Bernd Bücher mitbringt, interessiert es keinen.
Weil er von anderen sonst nur Ablehnung erfahren und von der Mutter eine ,,Angst vor der Menschheit‘‘ mitbekommen hat, erinnert er sich an seine erste Geburtstagseinladung noch ganz genau. Als eine Klassenkameradin in der Oberstufe erfährt, dass er noch nie seinen Geburtstag gefeiert hat, lädt sie ihn kurzerhand zu ihrer Feier ein, obwohl der Kollege, mit dem zusammen sie feiert, nicht gerade begeistert ist von dem Überraschungsgast. Er bekommt sogar ein Geschenk: In Aluminium eingewickelte Konfektstücke in einer Holzkiste. In der Kiste befand sich zuvor Seife, die roch gut. ,,Noch heute habe ich diese Seifenkiste und rieche gerne an ihr und erinnere mich daran, woher ich sie habe.‘‘
Unter diesen Bedingungen ist es nicht weiter verwunderlich, dass er im Alter von 17 Jahren zum ersten Mal denkt, lieber tot sein zu wollen. Eine Methode hätte er schon gewusst. Was ihn jedes Mal, wenn er kurz davor ist, am Leben hält, sind die unmittelbaren Pflichten des Alltags: Wenn er als studentische Hilfskraft dem Professor bis morgen Abend nicht die verlangte Liste liefert, wer sonst sollte es tun?
Arbeit
Nach einem Studium der Elektrotechnik, das er mit ,,Sehr gut‘‘ abschließt, fängt er als Softwareentwickler an. Kommt die Sprache auf seine ehemaligen Arbeitsstellen, geht sein Atem noch schwerer als ohnehin schon aufgrund seines Asthmas. ,,Arbeit‘‘ ist auch so ein Wort, das ihn zusammenzucken lässt. Kein Tag, an dem er nicht mehrmals an die Erlebnisse auf der Arbeit denken müsse.
Dabei strengte er sich an. Die Schwierigkeiten beginnen schon damit, dass Herr F. ein Studium der Elektrotechnik absolviert hat, sich also mit allem auskennt, was Hardware betrifft, in der neuen Firma aber auf einmal mit Linux-Software und einer komplizierten Programmiersprache namens ,,C++‘‘. Ein Versuch, in die Hardwareabteilung zu wechseln, wurde blockiert. Damit ging für ihn ein Traum zu Ende.
Herrn F.s Verletzlichkeit in sozialen Situationen trifft auf Kollegen, die denkbar wenig Verständnis für Abweichung haben. In seinen Aufzeichnungen heißen sie nur ,,XAb‘‘, ,,XTr‘‘ oder ,,YFo‘‘; eine Vorkehrung von Herrn F., die er nicht in erster Linie um der Anonymisierung willen getroffen hat, sondern vor allem, um die Namen zu vergessen. Da ist zum Beispiel der Kollege ,,XTr‘‘, der andere nie zu Ende sprechen lässt. Einmal wagt Herr F. die Frage, ob er seinen Satz noch zu Ende sagen dürfe, die Antwort kommt prompt: ,,Nein‘‘. Ein andermal erleidet Herr F. unerwartet einen Asthmaanfall und ringt nach Luft. XTr, der in diesem Augenblick hinzukommt, bricht in schallendes Gelächter aus. Später entschuldigt er sich, um kurz darauf erneut zu lachen.
In der Firma, die ohnehin schon weit entfernt vom Preis für das beste Arbeitsklima ist, hat man den Kollegen mit der etwas exzentrischen Art rasch auf dem Kieker. Eine willkommene Gelegenheit, Frust abzulassen und eigene Fehler abzuschieben. Die Vorfälle häufen sich, in denen ein Kollege mit ihm das Vorgehen bespricht und dann, wenn das Ergebnis beim Chef auf Kritik stößt, zu behaupten, Herr F. habe eigenmächtig gehandelt. Oder eine Sitzung wird einberufen, um die Leistung der Mitarbeiter zu überprüfen, und die Prüfenden nehmen dann nur das Dokument des Herrn F. ins Visier und hängen sich an einer Abkürzung auf, die er vergaß zu erläutern. Und dann steht eines Tages der Kollege YMö vor ihm und sagt: ,,Irgendwann wird ein großes schwarzes Auto vor dir stehen, und es wird ,Bumm!‘ machen, und dann wird es unheimlich dunkel für dich.‘‘ Am nächsten Tag wiederholt er seine Drohung.
Das einzig vernünftige Gespräch in der Firma sei mit der Putzfrau gewesen.
Seine Aufgaben erlebt Herr F. immer wieder als widersprüchlich. Mal kritisiert der Chef, er habe zu weit vorausgearbeitet, woraufhin er sein Programm auf die Vorgängerversion zurücksetzen muss. ,,Hätte ich also‘‘, resümiert Herr F., ,,während des Urlaubs von XAb zum großen Teil nur im Internet gesurft, hätte ich weniger Anschiss bekommen.‘‘ Es kommt auch vor, dass sein Chef ihn bittet, die ungefähre Anzahl an Stunden zu veranschlagen, die er für eine Aufgabe als erforderlich betrachtet, und im Nachhinein erfährt, dass die verfügbare Zeit längst feststeht. In diesem Arbeitsklima befürchtet Herr F. permanent, der nächste Fehler oder auch nur der geringste Anschein mangelnden Arbeitswillens könnte ihn die Stelle kosten. Seine Aufgaben stellen sich meist als so umfangreich heraus, dass das vorgegebene Zeitpensum nicht ausreicht. Zu allem Überfluss ist er in dieser Zeit unglücklich in eine Frau verliebt.
Im Gegenzug hat der Arbeitgeber den Eindruck, Herr F. arbeite unstrukturiert, und erhöht den Druck. Man verbietet ihm das Überschreiten der Zeitgrenzen und verlangt sogar Protokolle. Um die Aufgaben doch irgendwie in der vorgegebenen Frist zu schaffen, nimmt er massenweise Überstunden in Kauf. Mittags bleibt höchstens Zeit für ein Brot, abends stempelt er aus und sitzt dann noch stundenlang im Büro, häufig länger als zehn Stunden, obwohl alles über zehn Stunden ihm nicht mehr anerkannt wird. Um wach zu bleiben, behilft er sich mit Koffeintabletten, um einzuschlafen, mit Alkohol.
Eines Morgens fühlen sich seine Beine auf der Treppe zum Büro schwerer als sonst an; wenige Minuten später kollabiert er.
Der Arzt will ihn für zwei Wochen aufgrund von Erschöpfung krankschreiben. Herr F. kann ihn auf eine Woche herunterhandeln aus Angst um seine Arbeit. Wieder zurück, erkundigt sich niemand nach seiner Gesundheit.
Weil aus Sicht des Arbeitgebers das Problem in mangelhaftem Zeitmanagement besteht, verordnet man eine Schulung zum Thema. Die Vorwürfe tragen bald absurde Früchte. Ein Kollege trägt ihm eine zusätzliche Aufgabe auf und erkundigt sich, bis wann Herr F. sich darum kümmern könne. Er wolle keinen Druck machen, versichert er. Herr F. antwortet, morgen könne er es haben. Wann genau morgen, beginnt der Kollege nachzubohren; morgens, mittags oder abends? Also kontert Herr F. mit der einzig richtigen Antwort: Er bekomme es morgen um 12:27 Uhr. Daraufhin entfernt der Kollege sich endlich, nicht ohne noch etwas von wegen ,,…12:28 Uhr‘‘ zu rumoren.
Noch härter als die Vorwürfe bezüglich Zeitmanagement trifft ihn die Kritik, ihm mangele es an sozialer Kompetenz. Keiner wolle mit ihm zusammenarbeiten, wirft der Chef ihm vor. Wieder soll er Schulungen besuchen. Der Betriebsrat, bei dem er wiederholt Hilfe sucht, diesmal wegen einer Lohnkürzung, reagiert genervt: Die Schulungen hätten offensichtlich nichts geholfen, einer müsse ihm das ja mal gesagt haben.
Kurz darauf erleidet er einen zweiten Nervenzusammenbruch. Nach längerer Krankschreibung reicht er von sich aus die Kündigung ein. In dem Arbeitszeugnis, das er später erhält, habe jeder einzelne Satz eine Bosheit enthalten. Erst das Einschalten eines Anwalts veranlasst die Firma zur Abmilderung des Zeugnisses.
Für die neue Arbeitsstelle zieht er 2006 von Berlin in die Schweiz. In der neuen Firma sind die Kollegen zwar freundlicher, jedoch erscheinen ihm die Arbeitsverhältnisse auch hier chaotisch. Die Organisationsstruktur erschließt sich ihm nicht, immer wieder empfindet er Arbeitsabläufe als unsinnig oder gar widersprüchlich, und Besprechungen erlebt er häufig als Produktion viel heißer Luft mit bescheidenem Ergebnis, weshalb es ihm auch schwerfällt, ihnen zu folgen. In einem Urlaub in Berlin meint eine Freundin, immer beschwere er sich nur über die Arbeit.
Aus der Genauigkeit seines Berichts über diese Zeit spricht das fast schon verzweifelte Bedürfnis zu begreifen, wie es so weit kommen konnte. Um ja kein entscheidendes Detail zu vergessen, beschreibt F. detailliert die Aufgaben, die er gehabt hat, protokolliert alle Überlegungsschritte, die ihn zu einer bestimmten Handlung (oder deren Unterlassung) geführt haben, und zeigt betont auf, wo alles er den Fehler bei sich sieht. Zugleich klaffen immer wieder Lücken auf, Fragezeichen, die sich mit seinem Bericht alleine nicht beantworten lassen. Die Frage drängt sich auf, inwieweit F.s Selbstwahrnehmung damit übereinstimmt, wie er von außen wahrgenommen wird.
Obwohl er peinlich genau darauf achtet, ja keine Angriffsfläche zu bieten, und deshalb jeden seiner Schritte vorher abklärt, damit im Nachhinein ihm kein Strick daraus gedreht werden kann, wird bald schon die erste Besprechung über ihn anberaumt. Als er davon hört, übersteht er den Tag einzig mithilfe des Gedankens, am Abend Schluss mit dem Leben machen zu können. Was das Buch Projektmanagement für Einzelkämpfer soll, das ihm der Vorgesetzte in die Hand drückt, begreift er auch nicht. Zu allem Überfluss meint er immer wieder die alte Firma auferstehen zu sehen, zum Beispiel als eines Tages die Scheibenwischer seines Wagens hochgeklappt sind. Der Kollege, der neben ihm parkt und den er zur Rede stellt, reagiert verwundert.
Da er mit einem Programm noch zu wenig vertraut ist, müssen all seine Änderungen wieder rückgängig gemacht werden, womit er den Ärger der Firmenleitung auf sich zieht. Dass aber ein anwesender Kollege ihm nach der Sitzung noch eine Mail schickt mit Tipps für seine Person, findet F. übergriffig. Die Mail trifft ihn an einem wunden Punkt; sie nimmt ihn so stark mit, dass er bei sich selbst gemäß Wikipedia eine Schockreaktion diagnostiziert. Die angeblich gutgemeinten Tipps, woran er bei sich noch arbeiten sollte, gingen auch an Chef und Abteilungsleiter, also beschließt er, in die ,,Vorwärtsverteidigung‘‘ zu gehen, und verlangt ein Gespräch. In der Besprechung bringt er kein Wort mehr über die Lippen, stattdessen drückt er dem Chef das einseitige Dokument in die Hand, in welchem er seinen Gefühlen bezüglich der Mail Luft macht.
Eines Tages eröffnet die Personalleiterin ihm ,,mit freundlichem Gesicht‘‘, man wolle nicht weiter mit ihm zusammenarbeiten. F. fällt aus allen Wolken, das hat er nicht kommen sehen. Auf seine Frage nach dem Grund gibt man an, er habe zu unselbständig gearbeitet. – Aber warum man ihm das denn nicht früher gesagt habe? – Weil man befürchtet habe, er verkrafte es nicht.
Nach der Kündigung bittet man ihn erstens, nicht mit dem Auto nach Hause zu fahren, und gibt ihm zweitens die Nummer des Kriseninterventionszentrums (KIZ). Dort meldet er sich, zunächst noch eher aus Pflichtgefühl, und bekommt ein ,,Krisenbett‘‘; nach der ersten Nacht erfolgt dann der Zusammenbruch, kurz darauf vor der Psychiaterin ein zweiter. Sie ermahnt ihn, er solle sich zusammenreißen, er sei kein Baby mehr. Seine Panikattacke interpretiert sie als ,,aufmerksamkeitsheischendes Verhalten‘‘ und diagnostiziert eine Histrionische Persönlichkeitsstörung.
Nach drei Tagen verlegt man ihn in die Psychiatrie. Zu seinem Geburtstag bringen ein paar Kollegen aus dem Französischkurs einen Kuchen; wegen des Beruhigungsmittels, das er erhalten hat, kann er die Augen kaum offenhalten und muss bald zurück ins Bett.
Der Vorwurf, nicht selbständig genug arbeiten zu können, geht ihm nach. Nachts grübelt er darüber und gelangt zum Schluss, dass es nicht stimmt. Die Personalleiterin erkundigt sich noch ein paarmal nach seinem Zustand. F. möchte wissen, was der wahre Grund sei, sie bedauert, ihm nichts Neues sagen zu können. Über den Arzt, mit dem sie ebenfalls telefoniert, erfährt er, dass er ebenfalls unstrukturiert gearbeitet und Konzentrationsstörungen haben soll. Von einem Kollegen bringt er weiterhin in Erfahrung, dass man ihn oft nicht verstanden hätte.
Für F. ist das immer noch kein befriedigender Grund; andere Kollegen hätten auch undeutlich gesprochen. Seine Freunde stehen auf seiner Seite und versichern ihm, es läge an der Firma und nicht an ihm. Verständnisprobleme seien höchstwahrscheinlich auf kulturelle Unterschiede zurückzuführen. ,,Es gab eine Menge Chaos, und der neue Projektleiter hätte das auch nicht entrümpeln können. (…) Wäre er gleich Projektleiter geworden, hätte es das Desaster nicht gegeben.‘‘
Er kann bis heute nicht verstehen, was genau schiefgelaufen ist. Etwas stimmt nicht, dieses Gefühl begleitet ihn seit seiner Kindheit und bestimmt sein Leben, aber was genau ist ,,es‘‘? Und was davon sind die anderen und was er?
Die Diagnosen
,,Katatone Schizophrenie‘‘, so lautet seine Diagnose seit nunmehr sieben Jahren. Eine seiner Diagnosen, müsste man eher sagen, denn Herr F. hat schon so einige Namen für das gehört, was ihn immer wieder an die Grenzen seiner Kraft und darüber hinaus bringt. Die Histrionische Persönlichkeitsstörung wurde mittlerweile revidiert, in seinen Akten stehen nun eine ,,Aufmerksamkeitsdefizitstörung‘‘ (ADS) und eben die ,,Katatone Schizophrenie‘‘. Was aber bedeutet dieser in seiner Abgeklärtheit einschüchternde Begriff?
Zunächst einmal ist es wichtig, die Katatone Schizophrenie von dem zu unterscheiden, was man üblicherweise unter Schizophrenie versteht. Zu Letzterer gehören psychotische Symptome wie Halluzinationen oder Stimmenhören, von denen weder das Eine noch das Andere auf Herrn F. zutrifft. Hingegen zeichnet die Katatone Schizophrenie sich hauptsächlich durch psychomotorische Symptome aus. Ein typisches Merkmal bilden sogenannte Manierismen. Damit sind stereotype, repetitive Bewegungen gemeint wie zum Beispiel das Armrudern von Herrn F. Die kreisenden Armbewegungen treten unwillkürlich auf, ebenso wie sein Sprachtick, unaufhörlich ,,ist da‘‘ zu murmeln.
In der Fachwelt herrscht seit Einführung der Diagnose im Jahre 1874 durch Karl Ludwig Kahlbaum eine erhitzte Debatte darüber, ob die Katatonie tatsächlich im schizophrenen Spektrum zu verorten ist oder nicht viel eher eine eigenständige Störungskategorie darstellt. Studien zeigen nämlich, dass die Katatonie viel öfter im Zusammenhang mit affektiven Störungen wie Depression oder Bipolarer Störung auftritt als mit Schizophrenie. So weisen 9 bis 17 Prozent der psychiatrischen Patientinnen und Patienten katatone Symptome auf.
Debatten wie diese zeigen, dass es sich bei psychischen Störungen um künstliche Konstrukte handelt. Je nachdem, wie eine bestimmte Krankheit zu einer bestimmten Zeit definiert wird, zählt ein Verhalten als diese oder jene Krankheit oder als gesund. Und auch wenn man die Symptomatik ,,Depression‘‘ oder ,,Katatone Schizophrenie‘‘ nennt – es sind Beschreibungen, keine Erklärungen.
So addiert sich für Betroffene zu der Belastung durch die Krankheit selbst die Belastung, nicht wirklich zu wissen, womit man es zu tun hat. Diagnosen können ein Etikett sein und viel zu oft noch ein Stigma. Zu hören, dass man eine Depression habe oder gar eine Persönlichkeitsstörung, stößt bei Betroffenen verständlicherweise oft auf Widerstand. Herr F. jedoch wünscht sich nichts sehnlicher als eine Diagnose, die ihm endlich und ein für allemal erklären könnte, was los ist. Er kennt seine Diagnosen, er hat sie recherchiert. Bis jetzt fühlt er sich von keiner ausreichend verstanden.
In Berlin nahm er an einem psychologischen Arbeitskreis teil. Jede Woche traf man sich zu vierzigst in einem Raum und bekam die Gelegenheit, sich dem ‘‘heißen Stuhl‘‘ zu stellen. Eine Psychologin konsultiert F. seit dem frühen Erwachsenenalter. Von Riemanns Grundformen der Angst über tiefenpsychologisch orientierte Zeitschriften bis zu Erich Fromms Furcht vor der Freiheit hat er sich ein psychologisches Grundwissen angeeignet, auf das er immer wieder zurückgreift, um sich selbst und seine Umwelt besser zu verstehen.
Alles was ihm vielleicht endlich Aufschluss über die Frage geben könnte, was los ist, saugt er begierig auf. Neue Begriffe recherchiert er, vom Bericht unseres Interviews erbittet er eine Kopie. Zu den autobiographischen Texten, in welchen er seine Situation in Worte zu fassen versucht, kommt seine ,,Liste‘‘, die er mir vor dem Interview unaufgefordert zusendet. Man könnte sie als eine Inventur der Dinge bezeichnen, die nicht so sind, wie sie sein sollten. ,,Liege lange im Bett, brauche viel Schlaf.‘‘, steht da beispielsweise. ,,12 Stunden ist keine Seltenheit. Habe aber auch nichts, was mich aus dem Bett treibt.‘‘ Oder: ,,Mir geht es oft schlecht, ohne dass ich beschreiben kann, was und warum los ist.‘‘ Ein Punkt besteht nur aus zwei Wörtern: ,,keine Freude‘‘.
Ein, zwei Wochen nach der Liste schickt er mir erneut eine Mail, Betreff: ,,Nachtrag‘‘. Bis vor ein paar Jahren sei er noch recht sportlich gewesen und nahm an einer professionell organisierten, einwöchigen Wandertour durch die Alpen teil. Einer Teilnehmerin sei es psychisch nicht gut gegangen. Das habe er gemerkt, also habe er ihr Gesellschaft geleistet, ,,da es nicht schön ist, alleine am Ende zu gehen.‘‘. Kurz darauf habe er gespürt, dass in der Gruppe etwas gegen ihn laufe. Ein Teilnehmer habe sich seiner angenommen und ihn von der Frau, der er helfen wollte, isoliert. Nach ein, zwei Tagen habe der Mann ihm mitgeteilt, er habe sich ,,gebessert‘‘. Der Gruppenleiter habe schließlich mitbekommen, dass etwas schieflaufe, und sei eines Abends mit ihm essen gegangen; der Gruppenleiter sei eigentlich als Einziger in Ordnung gewesen.
Wie es ist, ,,alleine am Ende zu gehen‘‘, weiß er aus eigener Erfahrung: ,,Kann nicht richtig gehen.‘‘, hält er auf seiner Liste fest. ,,Letztens war ein Mann mit Rollator schneller als ich.‘‘ Wobei es gegen Abend besser werde. Und: ,,Ist das schon die katatone Schizophrenie?‘‘
Da ist diese unsichtbare Grenze zwischen ihm und den anderen, gegen die er immer und immer wieder stößt. Dass andere ihn vorschnell abstempeln, erlebt er oft genug. Sie sehen den abgeschabten Rucksack, hören das unverständliche Gemurmel, das jeden seiner Schritte begleitet, und glauben, sie wüssten Bescheid. ,,Nachtrag 2‘‘: In dem Sprachencafé, das er regelmäßig besucht, habe die Tischleiterin von Anfang an auf ihn herabgeschaut. Bis er ihr irgendwann verraten habe, dass er studiert hat. Ab da war sie ihm freundlich gesinnt.
Manchmal halten die Leute seinen Sprachtick auch für einen Gruß und sagen ,,Guten Tag‘‘. Dann grüßt er eben zurück.
Abschnitt 4
Sein Leben teilt F. in drei Abschnitte ein. ,,Genesis‘‘, der erste Teil, endete mit dem Auszug aus dem Elternhaus in seinem 26. Lebensjahr. Der zweite Abschnitt, ,,Exodus‘‘, beginnt damit, dass er zum ersten Mal darüber spricht, was zu Hause vorgefallen ist; sein Onkel ist der Erste, dem er sich öffnet. Aktuell befindet er sich im dritten Abschnitt, der seinen Anfang mit der Kündigung der letzten Arbeitsstelle genommen hat und den Titel ,,Finale‘‘ trägt.
Dass Herr F. anders tickt, merkt man auch an seiner Sprache. Ein ,,Alles klar!‘‘ versäumt Herr F. nie, mit wahlweise ,,Alles klar, Herr Kommissar!‘‘ oder ,,Alles klar auf der Andrea Doria!‘‘ zu vervollständigen. Und jedes Mal, wenn ich im Interview vorschlug fortzufahren, konterte Herr F. mit ,,Lieber Opel fahren‘‘. Man merkt jedenfalls sofort, dass er ein Gespür für Sprache hat. So zieht er dem profanen deutschen ,,Ja‘‘ oder ,,Nein‘‘ stets das russische ,,Da‘‘ oder ,,Njet‘‘ vor, statt ,,weiß nicht‘‘ sagt er ,,ne snaju‘‘. Kurz stutzig wurde ich auch, als ich einen neuen Termin mit ihm ausmachen wollte und als Antwort kam: ,,Mal lügen‘‘. Ich brauchte einen Moment, bis ich den Umweg über das schweizerdeutsche ,,Mal luege‘‘ gefunden hatte. Dazu erklärte er mir, dass er sich ,,Mal lügen‘‘ eigentlich abtrainieren wolle zugunsten von ,,Mal luege‘‘, was ihm aber bislang nicht gelungen sei.
Man könnte auch hier fragen: Ist das die katatone Schizophrenie? Irgendeine andere Diagnose? Einfälle wie diese als Symptome zu sehen, verkennte jedoch den ganz außergewöhnlichen Sprachwitz und die Kreativität, die erforderlich sind, um mit einem eben gehörten Wort im Handumdrehen ein Kunststück aus dem Ärmel zu zaubern oder sich Rätsel auszudenken wie: ,,at – rotate – ace. Welches Wort ist gesucht?‘‘, ein Rätsel aus Berliner Zeiten. Man kann auf ihn zählen, wenn es darum geht, mit dem Abwegigen, dem Besonderen aufzuwarten. So wie in der Übung ,,Ich packe meinen Koffer‘‘, in der andere für den Florida-Urlaub die nützliche, aber auch deutlich weniger unterhaltsame Zahnbürste einpacken, während Herr F. eine Schrotflinte mitnimmt, für die Alligatoren.
Herr F. würde gerne besser verstehen, was mit ihm los ist. Er recherchiert, reflektiert, er wartet auf die Person oder Diagnose, die den Schlüssel zu dem Rätsel bereithalten, das nicht er sich ausgedacht hat und das ihn seit Jahren beschäftigt, eigentlich sein ganzes Leben. Vielleicht wenn es endlich eine ganz rationale, wissenschaftliche Erklärung für seine Lage gäbe, vielleicht dass man ihn dann endlich so akzeptieren würde, wie er ist. Denn hinter der Hoffnung auf Erklärung steht im Grunde derselbe Wunsch, den jede und jeder von uns kennt: Der Wunsch, dazu zu gehören.
Ich glaube, Herrn F.s Geschichte geht mir so nach, weil ich das Gefühl habe, wir können etwas von ihm lernen. Dass es nicht schön ist, allein am Ende zu gehen, und dass man etwas langsamer gehen muss, um Eidechsen zu entdecken.

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