Materialismus und Nahtoderfahrungen

Materialismus und Nahtoderfahrungen

Aufstieg der Seligen, Hieronymus Bosch

Wie entsteht Bewusstsein? Für eine breite Strömung in den aktuellen Naturwissenschaften scheint die Antwort klar: Bewusstsein ist ein Produkt des Gehirns, ,,wir sind unser Gehirn‘‘ (Swaab, 2013). Zwar räumt man ein, im Moment noch nicht alles zu wissen, hält die noch ausstehenden Erklärungen jedoch für eine reine Frage der Zeit. Das materialistische Paradigma ist für den modernen Wissenschaftsbetrieb so selbstverständlich wie das Wasser für die Fische in David Foster Wallace‘ Anekdote: Zwei Fische werden von einem vorbeischwimmenden Fisch gegrüßt mit ,,Gutes Wasser heute!‘‘. Daraufhin fragt der eine den anderen: ,,Du, was ist eigentlich Wasser?‘‘ (Wallace, 2012). Die Annahme, dass Bewusstsein auf neuronale Prozesse zurückgeht, ist so selbstverständlich, dass wir oft ganz vergessen, dass es sich um eine Annahme handelt.

So fragte ich einmal in der Vorlesung einen Vertreter des reduktionistischen Paradigmas – ein Professor für Neuropsychologie, er gehört laut Wikipedia zu dem einen Prozent der am meisten zitierten Wissenschaftler der Welt -, ob er denn glaube, dass es nur eine Frage der Zeit sei, bis man jede psychische Störung durch einen Fehler im Gehirn erklären und anhand eines operativen Eingriffs beheben könne? Ich hatte gemeint, den reduktionistischen Ansatz damit ad absurdum zu führen, hatte mich aber getäuscht, wie der Experte mich aufklärte: ,,Ja genau.‘‘

In Zukunft darf demnach ein Mann, den der Verlust seiner Ehefrau in schwere Depressionen gestürzt hat und der nun professionelle Hilfe sucht, damit rechnen, dass ihn die Psychotherapeutin – insofern ihr Beruf dann nicht ohnehin überflüssig geworden ist – anstelle eines Gesprächs in einen Hirnscanner legen wird. Und die alleinerziehende Mutter, bei der der drohende Absturz in die Armut regelmäßig Panikzustände auslöst, darf hoffen: ein leistungsfähiger Computer hat errechnet, welche ihrer Hirnaktivitäten einer Anpassung bedarf, um sie von allen Sorgen zu befreien.

Einmal angenommen, eine Forschergruppe erbrächte tatsächlich den Beweis dafür, dass unser Bewusstsein das Ergebnis neuronaler Aktivität ist. Könnten wir diese Information überhaupt in unser Selbstkonzept integrieren? Bliebe nicht selbst mit Beweis ein Rest von Zweifel übrig?

Das Problem, auf das hier angespielt wird, nennen Philosophen die ,,Erklärungslücke‘‘ (Heil, 2020). Selbst wenn die neuronalen Mechanismen identifiziert würden, die für unser subjektives Erleben verantwortlich sind, liegt zwischen den rein physiologischen Vorgängen und ihrem intrinsischen Charakter – wie es ist, in diesem physiologischen Zustand zu sein – eine Lücke. Welche Schwierigkeiten sich ergeben, wenn man den Sprung über die ,,Erklärungslücke‘‘ versucht, schildert Thomas Nagel (1974), als er herausfinden möchte: ,,Wie ist es, eine Fledermaus zu sein?‘‘ Er kann sich vorstellen, wie es für ihn wäre, kopfüber von einem Balken zu hängen oder Appetit auf eine Fliege zu haben, aber ganz egal wie er es anstellt, immer bleiben es Projektionen seines eigenen Erfahrungswissens auf die Fledermaus. Und selbst auf diesem Weg, muss er zugeben, kann er so manche Erfahrungen – zum Beispiel den Klang von Ultraschall – nicht einmal erahnen, schlicht weil ihm dazu die biologische Ausrüstung einer Fledermaus fehlt. Nun wäre es unfair, nur weil man keinen unmittelbaren Zugang zu ihrem subjektiven Erleben finden kann, der Fledermaus zu unterstellen, sie habe keines. Aber es bedeutet, dass jedes Lebewesen das Privileg des exklusiven Zugangs zu seinem Bewusstsein genießt. Dies steht allerdings im Widerspruch zu der materialistischen Annahme, Bewusstseinsprozesse seien physische Prozesse. Denn wenn das so wäre, müssten sie ja – wie alles Physische – öffentlich zugänglich sein. Was das Bewusstsein betrifft, bedeutet jeder Schritt in Richtung mehr Objektivität nicht, dem Wesen des Bewusstseins näherzukommen, sondern sich von ihm zu entfernen.

Welche Implikationen bergen Nagels (1974) Erkenntnisse für die Wissenschaft vom Bewusstsein? Nachdem in den 1960er und -70er Jahren verschiedene Studien der Glaubwürdigkeit der Psychologie deutliche Kratzer hinzugefügt hatten, vor allem in Bezug auf die Verlässlichkeit psychiatrischer Diagnosen, arbeitete man in den folgenden Jahrzehnten mit großem Eifer daran, die Psychologie von ihrem ,,willkürlichen‘‘ Image zu befreien und aus ihr eine objektive, ,,harte‘‘ Disziplin zu machen. Immer öfter entschied nicht mehr in erster Linie die Relevanz einer Theorie, sondern ihre Objektivierbarkeit, also Messbarkeit darüber, ob die Psychologie sich dafür zuständig fühlte oder nicht. Dass der Ausrichtung der Psychologie an Objektivität, Reliabilität und Validität enorme Fortschritte, nicht zuletzt in der Diagnostik und Behandlung psychischer Störungen zu verdanken sind, bleibt unbestritten. Nichtsdestotrotz kann man sich fragen, ob eine Psychologie, die das subjektive Erleben mit objektiven Mitteln erfassen möchte, nicht den Kern ihres Forschungsgegenstands verfehlt. Wenn wir nur noch das untersuchen, was sich quantifizieren lässt, verpassen wir dann nicht das Entscheidende?

Vielleicht veranlassten Abraham Maslow die Anzeichen dieser Entwicklung bereits 1977 zu seiner Vision einer ,,umfassenden Wissenschaft‘‘, die ,,selbst das in ihren Zuständigkeitsbereich aufnehmen [muss], was sie nicht zu verstehen oder zu erklären vermag, […] was man nicht messen, voraussagen, kontrollieren oder einordnen kann.‘‘ (S. 100).    

Eine Wissenschaft, die nur das Messbare für real hält, verbannt die großen Fragen aus ihrem Zuständigkeitsbereich. Existiert Gott? Was ist der Sinn des Lebens? Gibt es ein Leben nach dem Tod? Der aufgeklärte Geist steht ohnehin über derlei Dingen. Der Mensch hat nun einmal das angeborene Bedürfnis, überall einen Sinn sehen zu wollen. Die Wurzeln seiner Sinnsuche liegen – wie alles – im Gehirn, denn wie inzwischen gezeigt wurde, können mittels Stimulation der entsprechenden Hirnareale religiöse Erfahrungen wie zum Beispiel die gefühlte Anwesenheit einer unsichtbaren Entität ,,per Knopfdruck‘‘ erzeugt werden (Cook & Persinger, 1997; Metzinger, 2014). Der Umkehrschluss, dass alle spirituellen Erfahrungen auf Ereignisse im Gehirn zurückgehen – eine Selbstverständlichkeit (Metzinger, 2014). Als neutraler Wissenschaftler bleibt man natürlich tolerant und erlaubt sich kein Urteil über Dinge, die man (noch) nicht widerlegen kann. Man drückt sein Verständnis dafür aus, dass manche Leute immer noch glauben wollen, die es nicht aushalten, der Sinnlosigkeit ihrer Existenz ins Auge zu blicken. Und degradiert damit subtil jede Form von Spiritualität zum Vermeidungsmechanismus. Indem man die ursprünglichen Fragen als ,,menschliche Schwäche‘‘ abtut, drückt man sich elegant um ihre Beantwortung.

,,Wir wissen heute, dass Emotionen nichts anderes sind als die Konsequenzen neurophysiologischer Erregungen.‘‘, verrät der Professor für Neuropsychologie Lutz Jäncke (2020). Vor dem Hintergrund, dass die Daten, die bislang zur Beziehung zwischen Geist und Gehirn vorliegen, rein korrelativ sind und keinerlei Schlüsse über die Richtung dieses Zusammenhangs erlauben, könnte man den Eindruck gewinnen, die Verteidiger der Aufklärung seien ihrer eigenen menschlichen Anfälligkeit für Aberglaube zum Opfer gefallen. Oder in den Worten des Neurowissenschaftlers Alva Noë: ,,Die Vorstellung, wir ,seien unser Gehirn‘, ist keine wissenschaftliche Erkenntnis; es ist […] ein Vorurteil.‘‘ (Noë, 2009).

Frühere Denker, darunter der Psychologe William James (1898), sahen zwischen Naturwissenschaften und spirituellen Fragestellungen keinen Widerspruch. Zu James‘ Zeiten war es noch möglich, den Überblick über die aktuellen wissenschaftlichen Publikationen zu behalten und sich auch in ,,fachfremden‘‘ Disziplinen ein Grundwissen anzueignen. Im heutigen Wissenschaftsbetrieb mit seiner ungeheuren Informationsflut und seinem Zeitdruck gehört der sogenannte Universalgelehrte allerdings zu einer aussterbenden Spezies. Die Umstände begünstigen den ,,Fachidioten‘‘, der alle Ressourcen auf eine winzige Nische konzentrieren muss und sich allein schon aus Zeitgründen nicht auch noch für Philosophie oder Geschichte interessieren kann. Die Fragen, die er sich stellt, haben mit den existenziellen Fragen meist nichts mehr zu tun, dementsprechend bescheiden bleibt ihr Erkenntnisgewinn.

Um die Universalhypothese, alle Schwäne seien weiß, zu widerlegen, genügt ein einziger schwarzer Schwan. Um das materialistische Paradigma, Bewusstsein sei ein Produkt des Gehirns, zu widerlegen, bedarf es nur eines Falls, in dem Bewusstsein unabhängig vom Gehirn existiert. Daher geht es nun um Nahtoderfahrungen (NTE).

Wenn das Herz stillsteht, bricht die Blutversorgung und folglich auch die Sauerstoffversorgung des Gehirns ab. Es dauert durchschnittlich fünfzehn Sekunden, bis das Elektroencephalogramm (EEG) eine Null-Linie bildet und keine messbare Hirnaktivität mehr vorhanden ist. Man ist ,,klinisch tot‘‘. Wenn nicht innerhalb der ersten zehn Minuten eine Reanimation stattfindet, erleiden die Nervenzellen irreversible Schäden und der biologische Tod tritt ein. Ausgerechnet in dieser Situation, in der die Hirnaktivität vollständig ausfällt, berichten Menschen von bewussten Erfahrungen, die das Wachbewusstsein an Klarheit und Möglichkeiten bei Weitem übersteigen.

In einer repräsentativen Umfrage geben 4,2% der Deutschen an, bereits einmal eine NTE erlebt zu haben (Schmied et al., 1999). Unter denjenigen, die eine Reanimation nach Herzstillstand überlebt haben, steigt der Prozentsatz auf 11 bis 23% (Greyson, 2003; Lommel et al., 2001; Parnia & Fenwick, 2002; Sartori et al., 2006). Aber ein Herzstillstand ist keine notwendige Voraussetzung, auch körperlich gesunde Personen können eine NTE erleben, zum Beispiel in einer depressiven Krise, bei einem Spaziergang im Wald oder während Meditation (Beauregard et al., 2009; Lommel, 2009).

Um eine NTE zu charakterisieren, hat Raymond Moody als Erster in seinem 1975 erschienenen Buch Leben nach dem Tod die folgenden 12 Elemente zusammengestellt. (1) Zunächst einmal stößt die Sprache, wenn sie eine NTE beschreiben soll, rasch an Grenzen. (2) Eine NTE beginnt damit, dass die starken körperlichen Schmerzen, die man eben noch kaum ausgehalten hat, verschwunden sind. (3) Dieser innere Friede geht einher mit der Erkenntnis, tot zu sein. Paradoxerweise hört man, wie eine der anwesenden Ärztinnen einen für tot erklärt, just zu einem Zeitpunkt, in dem man sich so lebendig wie nie fühlt. Spätestens jetzt stellt sich die Frage, wer oder was ,,hört‘‘, denn ,,die Person‘‘ liegt bewusstlos auf dem OP-Tisch. (4) Man schlüpft aus seinem Körper und beobachtet aus der Vogelperspektive das Geschehen. Von Geburt an Blinde, die eine solche Außerkörperliche Erfahrung (AKE) erleben, können zum ersten Mal sehen. Die Gesetze von Raum und Zeit sind aufgehoben, man muss nur an jemanden denken und ist schon bei ihm. Nicht nur hört man, was die mit der Reanimation beschäftigten Pfleger sprechen, sondern deren Gedanken sind ein offenes Buch. Für die wissenschaftliche Untersuchung von NTE spielen AKE deshalb eine zentrale Rolle, weil ihre Beobachtungen später mit den Berichten des anwesenden Pflegepersonals verglichen und verifiziert werden können. (5) Der Tunnel, durch den man von einem Licht angezogen wird, ist zum Symbolbild für NTE geworden. (6) Auf der anderen Seite des Tunnels betritt man eine überirdisch schöne Landschaft. (7) Man begegnet Verstorbenen, selbst solchen, von deren Tod man zu diesem Zeitpunkt noch gar nicht wissen kann. (8) Den größten Eindruck hinterlässt die Begegnung mit dem Licht. Das Licht lässt einem bedingungslose Liebe zuteilwerden, gegen die die irdische Liebe verblasst. Man erhält Zugang zu einem allumfassenden Wissen. Persönliche Schicksalsschläge, die eigene Existenz, die Evolution – auf einmal begreift man intuitiv den Grund für alles. Auch Mathematik und Quantenphysik bereiten einem keinerlei Probleme mehr. Dieses Wissen kann nicht mit zurück in die irdische Welt genommen werden. (9) Ein Lebenspanorama führt einem das eigene Leben noch einmal vor Augen, angereichert um die Auswirkungen, die die eigenen Handlungen auf andere hatten. Obwohl die Reanimation nur wenige Minuten dauert, können Betroffene tagelang von der Lebensrückschau sprechen. (10) Manche sehen nicht nur zurück in die Vergangenheit, sondern voraus in die Zukunft, sodass sie nach ihrer Rückkehr eine Liste erstellen, die sie im Laufe ihres verbleibenden Lebens bloß noch abhaken müssen. (11) Nun stößt man auf seinem Weg durch die fremde Welt an eine Grenze. Intuitiv weiß man: einmal überschritten, gibt es kein Zurück mehr. Man spürt auch, dass die eigene Zeit noch nicht gekommen ist. (12) Daraufhin kehrt man in seinen Körper zurück, bzw. wird man durch Reanimation zurückgeholt. Viele Menschen, die eine NTE erlebt haben, freuen sich allerdings nicht darüber, sondern sehnen sich nach der eben erlebten Welt zurück.  

Zwei Anmerkungen dazu: erstens umfasst lang nicht jede NTE alle 12 Elemente. Zweitens scheint der kulturelle Hintergrund eine Rolle zu spielen, manche Elemente kommen in nicht-westlichen Kulturen signifikant seltener vor (Kellehear, 1996).

Moodys (1975) Buch setzte eine Welle von Studien in Gang. Den meisten Studien liegt allerdings ein retrospektives Design zugrunde (Lommel, 2009). Das macht sie anfällig, da man nicht kontrollieren kann, ob diejenigen, die sich für die Studie melden, sich von denen unterscheiden, die ihr fernbleiben (Selektionseffekte). Oft liegen die NTE Jahre zurück, was eine Überprüfung ihrer Umstände unmöglich macht.

Der niederländische Kardiologe Pim van Lommel führte die erste prospektive Studie über NTE durch. Seine Ergebnisse publizierte er 2001 in der internationalen Fachzeitschrift The Lancet (Lommel et al., 2001). Über vier Jahre hinweg nahm er in zehn niederländischen Kliniken insgesamt 344 Patienten konsekutiv in seine Studie auf, die eine Reanimation nach Herzstillstand überlebt hatten. Innerhalb von fünf Tagen danach stellte man ihnen die offene Frage: ,,Können Sie sich an etwas aus der Zeit Ihres Herzstillstands erinnern?‘‘ Falls die Antwort ja lautete, schätzte man in einem offenen Interview die Tiefe der NTE anhand des Weighted Core Experience Index (WCEI; Greyson, 1983) ein. Auf diese Weise erhielt man automatisch eine Kontrollgruppe jener Reanimationspatienten, die keine NTE erlebt hatten.

Mit 18% fiel die Häufigkeit von NTE deutlich niedriger aus als in retrospektiven Studien. Von diesen 62 Patienten berichteten 32% von Begegnung mit Verstorbenen, 23% von Kommunikation mit dem Licht, und ein Viertel erlebte eine AKE.

Ein Beispiel für eine AKE liefert der Fall eines Mannes, der ein paar Tage nach seiner Wiederbelebung freudig einen Pfleger ansprach: endlich habe er die Person gefunden, die wisse, wo sein Gebiss stecke! Wie er dem verblüfften Pfleger erklärte, hatte er während seiner Reanimation – also im Zustand der Bewusstlosigkeit – beobachtet, wie jener Pfleger seinem Körper das Gebiss entnahm und in einer Schublade verstaute. Dies wurde vom Pfleger bestätigt. Dass die Inhalte solcher AKE später von anderen Personen verifiziert werden können, widerlegt die Behauptung, es handle sich um Halluzinationen. Denn anders als Halluzinationen wurzeln AKE in der objektivierbaren Realität.

Wieso erlebten alle Patienten einen klinischen Tod, doch nur manche eine NTE? Die erhobenen Daten geben darüber keinen Aufschluss: die NTE-Gruppe unterschied sich von der Kontrollgruppe weder bezüglich Religiosität, noch Dauer und Schwere des Herzstillstands, Medikation oder Vorwissen über NTE.

Wohl aber kristallisierten sich zwei und acht Jahre nach der Reanimation deutliche Unterschiede zwischen NTE- und Kontrollgruppe heraus. Menschen, die eine NTE erlebt hatten, fürchteten den Tod weniger und glaubten häufiger an ein Leben danach. Ihr Interesse für materielle Dinge nahm ab, stattdessen wandten sie sich spirituellen Fragen zu.

Das Vorhandensein subjektiver Erfahrungen im Zustand der Bewusstlosigkeit fordert das materialistische Paradigma heraus. Natürlich geben seine Vertreter vor, Erklärungen bei der Hand zu haben, die jedoch bei näherem Hinsehen nur einzelne Aspekte von NTE aufgreifen, voreilige Schlussfolgerungen ziehen oder auch bereits widerlegt sind (Lommel, 2009). Ein erster, sehr naheliegender Einwand besteht in dem Hinweis, irgendwo tief im Hirn habe es vielleicht ja doch noch Aktivität gegeben (Woerlee, 2011). Abgesehen davon, dass Tierstudien das völlige Erliegen der Aktivität bei Herzstillstand auch in tiefen Hirnregionen nachweisen konnten, verfehlt das Argument den springenden Punkt: nach materialistischer Auffassung spielt für bewusste Wahrnehmungs- und Denkprozesse der Cortex eine unverzichtbare Rolle, und dessen Aktivität kommt während eines Herzstillstands nachweislich komplett zum Erliegen (Lommel, 2009; Mayer & Marx, 1972).

Eine andere gern hervorgebrachte These sieht die Ursache der NTE im Sauerstoffmangel, der infolge eines Herzstillstands zum Rückgang der Hirnaktivität bis zum Totalausfall führt und Endorphine freisetzt, die schmerzstillend und halluzinogen wirken können (Blackmore, 1993). Diese These entspricht aus mehreren Gründen nicht der Realität: erstens setzt sie NTE mit von Endorphin erzeugten Halluzinationen gleich, obwohl NTE, wie bereits erwähnt, eine reale Grundlage besitzen. Zweitens wären nach dieser These NTE nur bis zum Totalausfall der Hirnaktivität, also bis zum klinischen Tod möglich; dieser tritt aber sehr rasch ein, während AKE auch danach auftreten können.  Drittens müssten, wenn Sauerstoffmangel NTE auslösen würde, alle Reanimationspatienten eine NTE berichten, es sind aber nur 18%. Und viertens können NTE auch bei körperlich gesunden Menschen auftreten (Beauregard et al., 2009; Lommel, 2009). Trotzdem erfreut sich die These vom Sauerstoffmangel großer Beliebtheit.

In manchen Untersuchungen können durch Stimulation bestimmter Regionen im Temporallappen Aspekte einer AKE künstlich erzeugt werden (Blanke et al., 2002). Keine einzige künstlich erzeugte ,,AKE‘‘ schließt die Wahrnehmung des eigenen Körpers von oben ein, geschweige denn deren spätere Verifizierung. Das hält manche Autoren nicht davon ab zu verkünden, sie hätten die neuronale Ursache von AKE entdeckt (Blanke et al., 2004).

Eine der wenigen physiologischen Theorien, die einen Beitrag zur Erklärung von NTE leisten können, beschäftigt sich mit Psychedelika. Dimethyltryptamin (DMT) kann per Injektion bewusstseinsverändernd wirken. Es kommt aber auch als natürliches Produkt der Zirbeldrüse im Körper vor und wird unter starkem Stress – zum Beispiel bei Herzstillstand – in großen Mengen freigesetzt (Newberg, 2003). Zwischen einem DMT-Trip und NTE besteht ein großer Überlappungsbereich: die Personen berichten vom Verlassen ihres Körpers, klareren und erweiterten Denkprozessen, einer überirdischen Landschaft, der Begegnung mit einem Lichtwesen, das ihnen bedingungslose Liebe entgegenbringt und Zugang zu einem tieferen Wissen gewährt (Timmermann et al., 2018). Nicht selten prägt die Erfahrung ihr Leben und ihre Persönlichkeit nachhaltig und nimmt ihnen die Angst vor dem Sterben (Strassman, 2001). Aus diesen Gründen hält Lommel (2009) es für möglich, dass DMT in Bezug auf NTE eine Schlüsselrolle zukommt: möglicherweise fungiere es als ,,Türsteher‘‘ zu einem erweiterten Bewusstsein.

Obwohl Lommel (2009) als Sohn eines Neurologen, als Medizinstudent und später als Kardiologe in einer Umwelt sozialisiert wurde, in der das materialistische Paradigma eine Selbstverständlichkeit darstellt, fühlt er sich angesichts der Resultate seiner eigenen sowie vergleichbarer Studien zu NTE dazu veranlasst, sich davon zu lösen. Ähnlich wie der Mathematiker Roger Penrose (1995) hält er das Gehirn nicht mehr für den Verursacher, sondern für die Schnittstelle zwischen materieller Welt und einem ,,endlosen Bewusstsein‘‘. Das Gehirn empfange Informationen aus unserem ,,endlosen Bewusstsein‘‘, die sich sowohl in unserem subjektiven Wachbewusstsein als auch in messbarer Hirnaktivität manifestieren. Wachbewusstsein und Hirnaktivität sind jedoch nicht identisch mit dem ,,endlosen Bewusstsein‘‘, schon gar nicht bringen sie es hervor. Lommel (2009) vergleicht es mit einem Fernsehapparat: ,,Erst wenn man das Fernsehgerät anschaltet, sieht und hört man das Programm, wenn man es wieder abschaltet, sieht und hört man nichts mehr, und trotzdem geht die Sendung weiter.‘‘ (S. 286-287). Zugleich funktioniere unser Gehirn wie eine Fernsehkamera und mache die materielle Welt für unser ,,endloses Bewusstsein‘‘ erfahrbar.

Studien zu NTE erbringen nicht den Beweis, dass es eine ,,Seele‘‘ oder ein ,,Jenseits‘‘ tatsächlich gibt. Einen solchen Beweis wird es vermutlich nie geben können. Studien wie die prospektive Langzeituntersuchung von Lommel und Kollegen (2001) werfen jedoch Fragen auf, die das materialistische Paradigma allein nicht beantworten kann. Sie zeigen, dass ,,paranormale‘‘ Phänomene einer wissenschaftlichen, systematischen Untersuchung unterzogen werden können. Ob man an eine materielle Ursache des Bewusstseins glaubt oder daran, dass es mehr gibt als das Materielle, Messbare, ist eine persönliche Entscheidung – und sollte persönlich bleiben. Kritisch wird es dann, wenn eine Voreingenommenheit für das eine oder das andere sich in den Entscheidungsprozess einmischt, welche Phänomene wissenschaftliche Aufmerksamkeit, kritische Würdigung und Forschungsgelder verdienen. Ein Materialist, der das Bewusstsein ernstnimmt, sollte größtes Interesse am Phänomen der NTE haben.

Quellen

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