Wahnstimmung

Wahnstimmung

Im Dezember 2022 nahm ich an einer Studie der Universität Fribourg (CH) teil. Sie untersuchte die Effekte von LSD auf gesunde Personen. Im Folgenden schildere ich meine Erfahrungen mit einer hohen Dosis LSD (150 Mikrogramm), die ich im Rahmen dieser Studie einnahm. Ich habe niemals vorher LSD oder ähnliche Substanzen ausprobiert und mich nur darauf eingelassen, weil es im kontrollierten Setting einer Studie geschah. Während der gesamten LSD-Sitzung, die von 9 bis 18 Uhr dauerte, war ich in permanenter Begleitung durch zwei Studienmitarbeiter.

Der folgende Text besitzt weder eine bestechende Dramaturgie, noch habe ich mir die Mühe gemacht, die einzelnen Abschnitte miteinander zu verbinden. Ich habe ihn für nichts sonst geschrieben, als um festzuhalten, was mich an meiner ersten Begegnung mit LSD nachhaltig beeindruckt hat. Das erklärt den impressionistischen Charakter dieses Textes.

Es beginnt schleichend. Es pirscht sich an mich heran, wie ein Tiger sich auf leisen Pfoten an seine Beute anpirscht. Ich spüre, dass meine Arme links und rechts neben mir auf der Matratze zu zittern anfangen, und fühle mich wie ein Astronaut kurz vor dem Raketenstart. Meine Lider flattern, meine Sinne werden gespannt und immer weiter gespannt wie eine Bogensehne. Jede einzelne Fiber meines Körpers richtet sich auf. Ich fühle, dass ich kurz vor einer Entdeckung stehe, die meine Kapazitäten sprengen wird. So, fährt mir durch den Kopf, muss sich Wahnstimmung anfühlen.

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Der Moment, in dem ich den Kopf in den Nacken lege, die Augen zu dem Bild hebe, das über dem Kopfende meines Bettes hängt, und feststelle, dass es lebt. Die sanft schaukelnde Wasseroberfläche der Teiche spiegelt den Vollmond (der eigentlich, wie ich später, wieder nüchtern, erkenne, eine Sonne ist). Eben noch haben die Gräser am Ufer sich unauffällig im Wind gewogen; jetzt erwachen sie zum Leben und schlängeln sich empor. Auf dem Wasser die Seerosen öffnen, blühen, schließen und öffnen sich wieder wie im Zeitraffer. Das Bild ist ein einziges üppiges Fest des Lebens und der Fruchtbarkeit. Es fließt buchstäblich über vor lauter Üppigkeit, in dicken Tropfen läuft das Wasser über den Bildrand. Ich strecke die Hand aus und tauche meinen Finger hinein; als ich ihn zurückziehe, bleibt ein Tupfer saftig-grüner Farbe an meiner Fingerkuppe haften.

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Ich bin der Architekt meiner Wirklichkeit. Ich muss bloß denken, dass dieser Fleck dort wie ein Jaguar aussieht, schon verwandelt er sich in eine Raubkatze mit schwarzgetupftem Fell. Mir wird bewusst, dass ich das Bild kopfüber betrachte, schon hat mein Kopf (oder was auch immer) es um hundertachtzig Grad gekehrt.

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Alles lebt. Die Holzaugen der Dachbalken über dem Balkon weiten und verengen sich. Die Bettdecke sieht aus, als suchte ein Mensch darin nach einem Ausweg.

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Ich muss auf Toilette. Mein Blick fällt auf den Papierfetzen, der im Waschbecken liegt. Als würde mein Blick ihm Atem einhauchen, erwacht das Papier zum Leben. Sogar das Klopapier, fährt mir durch den Kopf. Das ist zu viel. Ich kann mich nicht mehr aus Rücksicht auf meine Gesellschaft – die Versuchsleiterin und den Praktikanten – zurückhalten, ich lache los. Die ganze Sache kann ich doch nicht mehr ernstnehmen, auch wenn ich nicht sagen kann, was ich mit der ,,ganzen Sache“ meine. Mich hat eine Heiterkeit gepackt, wie ich sie von mir nicht kenne. Während ich aus dem Bad und zurück zum Bett laufe, lache ich, wie ich schon lange nicht mehr gelacht habe. Meine Schultern hüpfen. Ich sinke zurück auf die Matratze, das Lachen versiegt, eine Welle tiefer, inbrünstiger Traurigkeit schlägt über mir zusammen, ohne dass ich einen Auslöser bestimmen könnte. Ich lasse los und die Tränen über mein Gesicht laufen.

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Eine Ahnung veranlasst mich, bei meinem Arm nachzusehen. Tatsächlich, ich stelle fest, dass ich im Zeitraffer altere. Ich sehe meine Haut faltig werden und kleine Löcher bekommen, aus denen Käfer und Würmer krabbeln, die mein totes Fleisch fressen, bis darunter die Knochen zutage treten. Erstaunlicherweise finde ich das nicht erschreckend oder ekelhaft. Ich schaue einfach fasziniert und mit einem beinahe klinischen Interesse eine Weile dabei zu, wie mein Körper immer und immer wieder von Neuem vergeht. Allerdings nicht in chronologischer Reihenfolge, mein Arm zerfällt und bleibt doch die ganze Zeit über mein Arm. Gegenwart und Zukunft vermischen sich, existieren nebeneinander, heben die Zeit auf. 

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Im Kontrast zum Verfall meines Körpers sehe ich das Blut in leuchtend violetten Bahnen durch meine Hände strömen. Dass diese Halluzination unter LSD auftreten kann, habe ich schon gehört, es mit eigenen Augen zu sehen, ist aber etwas ganz anderes.  

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Ich gehe schon wieder ins Bad, denn ich muss unbedingt nachschauen, ob ich auch mein Herz schlagen sehen kann. Ungeduldig ziehe ich mein T-Shirt über den Kopf und muss mich damit abfinden, dass mein Röntgenblick sich auf meine Hände beschränkt. Dafür wimmelt meine Brust von den Vollstreckern der Verwesung. Meine Brusthaare winden und kringeln und verwandeln sich in Würmer. Aus dem Spiegel blickt mir mein greises Ich entgegen. Meine Augen- und Wangenhöhlen fallen ein, aus meinen Augenringen weicht das Blut, meine Stirn erodiert. Der Zahn der Zeit nagt an mir und kann mir doch nichts anhaben. Ich schaue meinem eigenen Zerfall zu und bleibe doch unversehrt. Die Zeit rollt in Wellen über meinen Körper hinweg, und mein Körper steht doch fest und sicher wie ein Fels in der Brandung. Ich fühle mich unverwüstlich.

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Ich verspüre den starken Drang, alles Mögliche auszuprobieren, um herauszufinden, was LSD daraus macht. In Begleitung der Versuchsleiterin und des Praktikanten, die ständig in meiner Nähe bleiben, lege ich auf dem Weg zum Balkon eine lange Reise durch den Flur zurück, die in Wahrheit nicht länger als zehn Meter ist.

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Auf dem Balkon bringt mich ein Auto, das geschwind um die Kurve biegt, erneut zum Lachen. Nicht weil ich, nur weil ich einmal LSD genommen habe, mich nun über irdisch-prosaische Dinge wie Zeitdruck erhaben fühle. Es ist die Bewegung selbst, die mich zum Lachen bringt. Rasche Bewegungen scheinen von ihrer Quelle sich über die Luft fortzupflanzen bis zu meiner Brust, wo sie einen Lachimpuls auslösen.

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Als ich mich umdrehe, leuchten die Augen der Versuchsleiterin in einem strahlenden Blau, das mir vorher nie aufgefallen ist.

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In meinen Händen fluoresziert nicht mehr das Adergeflecht, stattdessen rasen Reihen stilisierter, wie in Stein geritzter Figuren über meine Hände. Sie bewegen sich unterschiedlich schnell wie die Zahlen eines Glücksspielautomaten, zwischendurch tanzen sie in streng-geometrischen Mustern wie durch ein Kaleidoskop betrachtet. Ich sehe Menschen, die gezackte Zungen herausstrecken, furchteinflößende Fratzen, die Dämonen oder grausamen Göttern gehören müssen, Fische und andere Tiere, und sie sehen genau so aus wie die Figuren, die ich auf Bildern von Inka- oder Maya-Tempeln gesehen habe. Bis auf ein Referat, das ich vor fünfzehn Jahren über die Azteken gehalten habe, habe ich mich nie mit dieser Kultur beschäftigt. Seither sind mir derartige Figuren, wenn überhaupt, höchstens zufällig und unbewusst begegnet. Bemerkenswerterweise berichtet Albert Hoffmann, bei seinen Trips ebenfalls derartige Figuren gesehen zu haben.

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Ohne absichtlich darüber nachgedacht zu haben, stößt mir die Einsicht zu, dass ich den Großteil meines Lebens noch vor mir habe. Es hat gerade erst angefangen, auf mich wartet so Vieles, das entdeckt und erlebt werden will. Ich habe eine Freundin, die ich liebe und die mich liebt; unsere Beziehung hält noch so viele Entdeckungen für uns bereit – die erste gemeinsame Wohnung, irgendwann, vielleicht, das erste Kind. Ich fange gerade erst an, ein Psychotherapeut zu werden; vor mir liegt eine ganz neue Welt, die ich für mich entdecken darf. Warum Vergangenem hinterhertrauern? Warum sich mit all den Dingen aufhalten, die nicht so sind, wie ich sie gerne hätte, aber die ich nicht ändern kann, anstatt den Blick nach vorne zu richten? So ausgesprochen, klingt diese Erkenntnis banal. Gewusst habe ich das natürlich schon vorher. Aber unter LSD bin ich zum ersten Mal von selbst darauf gekommen.

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Und die ganze Zeit über im Hintergrund dieses leise Klackern wie über die Tastatur flitzende Finger; dieses helle Blubbern wie von winzigen, zur Wasseroberfläche aufsteigenden und dort zerplatzenden Luftbläschen; dieses elektronische Rattern wie die durchlaufenden Algorithmen der Matrix.

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Sobald die Wirkung nachlässt, reißt mein innerer Selbstoptimierer das Steuer an sich. Was nehme ich mit? Wie lauten die ,,Take Home Messages“? Was hat mir der Trip gebracht? Mir fällt ein, dass ich weder die Auflösung meines Ichs und die Einswerdung mit dem Universum erlebt habe, noch dass ich einer göttlichen Instanz begegnet bin. Andere schon, warum ich nicht? Was stimmt nicht mit mir? Vom Grübeln hat mich das LSD offensichtlich nicht geheilt. Im Gegenteil, nach mehreren Stunden des Lebens im Augenblick erleide ich nun eine regelrechte Grübelattacke. Einmal mehr erfahre ich, wie wir hyperreflexiven Individuen uns das Leben selbst zur Hölle machen, indem wir uns immer und überall beobachten und beim Beobachten beobachten usw.

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Wie mein Mitbewohner, der mich abholt und dem diese ganze Psycho-Kiste ziemlich suspekt ist, mich von der Seite misstrauisch beäugt, als könnte ich Junkie jeden Moment zusammenklappen, und schließlich raunt, damit ihn die anderen im Bus nicht hören: ,,Wenn was is‘, gibste Bescheid, gell?“

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