Die ersten Partys gehören zum Erwachsenwerden wie der erste Joint und der erste Kuss. Eventuell ist beides sogar Teil der Party.
Noch gibt es Urwaldvölker, die nicht wissen, was ein Club ist. Stattdessen schickt man den (männlichen) Nachwuchs ein halbes Jahr lang in den Dschungel. Wenn er zurückkehrt – falls er zurückkehrt -, hat er das Aufnahmeritual in die Erwachsenenwelt bestanden. Das Pendant dazu auf der anderen Seite der Welt ist der ,,Walkabout‘‘ der Aborigines. Sobald ein Junge das dreizehnte Lebensjahr erreicht hat, begibt er sich allein auf die Suche nach seinem Traumpfad; jeder hat seinen persönlichen Traumpfad, der in seinem persönlichen Traumpfadlied beschrieben ist. Oft absolviert der junge Beinah-Mann zusätzlich zum realen einen Drogen-Trip, in dessen Verlauf er kurzzeitig in die Haut desjenigen Tieres schlüpft, welches von nun an über ihn wachen wird bis zum Tod.
Was früher gefährlich bis tödliche Reifeprüfungen für die Erwachsenenschwelle waren, sind heute Clubs wie das Berghain.
Tagsüber kann man sich ihnen gefahrlos nähern. Nachts, wenn die Massen die Wände zu sprengen drohen und durch die Eingänge bis nach draußen quillen, wenn die Musikanlagen zu Epizentren mutieren, dann meldet sich im Besucher, der Besucherin der natürliche Impuls, auf der Stelle umzukehren und Reißaus zu nehmen. Diesen logischen Schutzinstinkt niederzukämpfen, sich trotzdem aufs Schlachtfeld zu wagen, ist die erste Kraftprobe.
Gewisse Ähnlichkeiten zwischen Club und Kriegsschauplatz werden auf den zweiten Blick offenkundig. Dunkelheit beschränkt die Sicht und macht unvorhersehbar, was die nächste Ecke bereithält. Unvermittelt brennt der grelle Lichtblitz eines Scheinwerfers den flüchtigen Eindruck des Schlachtfelds in deine Netzhaut. Bombenhagelgleich jagen die Boxen, bis weit über die Schmerzgrenze aufgedreht, dumpfe Bass-Schläge durch deinen Körper. Deine Ohren betteln, flehen dich an, eine Viertelstunde in dieser Lärmkulisse, und sie werden nicht mehr dieselben sein, aber du lässt sie jammern und kämpfst dich vorwärts, näher zur Lärmquelle, wo das Schlachtgetümmel am brutalsten kocht. Manche Clubs, die angesagtesten, logieren in einer Kulisse der Zerstörung und Verwüstung: Abgewrackte Fabrikhallen, durchlöcherter Beton, eingestürzte Dachstühle, aus Wänden ragt abgebrochener Draht. Dubstep-Musik schmiedet das Publikum wie eine riesige, stählerne, außer Kontrolle geratene Maschine, und die Tanzenden pumpen und stampfen ihre Sinne stumpf bis zur Besinnungslosigkeit.
Man kann das nur ertragen, wenn man mit Alkohol und Härterem nachhilft. Um zu dokumentieren, wieviel Spaß man dabei hat, sozusagen als Beweis für seinen Heldenmut und Kaltblütigkeit, fotografiert und filmt man sich gegenseitig. Auf den Fotos und Videos sieht die Party immer ein bisschen besser aus als in Echt. Und aus den zweihundert Tanzenden werden in den Erzählungen am nächsten Tag fünfhundert ausnahmslos Rasende.
Zwischen den Feiernden herrscht ein heimlicher, unterschwelliger Konkurrenzkampf: Wer feiert am besten? Und wer hält am längsten durch? Wenn die Müdigkeit übermächtig wird, beißt man die Zähne zusammen und feiert weiter, um sich am nächsten Tag mit Zahlen zu überbieten: ,,Ich war bis vier da.‘‘ – ,,Wir sind bis zum Schluss um halb sieben geblieben. Und danach ging’s grad woanders weiter!‘‘
Wie beim selbstauferlegten Überlebenskampf im Dschungel geht es auch im Club um die Grenzerfahrung. Wir sehnen uns nach Grenzerfahrungen. Wo uns früher die Religion die Begrenztheit unserer menschlichen Existenz und zugleich eine göttliche Macht spürbar machte, versprechen uns heute Raves, Extremsport und Drogen dasselbe, bloß ohne spirituellen Überbau. Unsere neuen Priester sind die DJs, die Nacht für Nacht die Massen ihrer Gläubigen um ihre Kanzel versammeln.
Dass es normal geworden ist, dreimal die Woche zu feiern und sich jedes Mal die Kante zu geben, und dass die ,,Events‘‘ immer größer und lauter werden, wirkt wie das verzweifelte Handausstrecken nach etwas. Denn im Unterschied zu dem jungen Indianer ist unsere Suche nicht nach einem halben Jahr vorbei. Bei manchen hört sie nie auf. Sie kann sogar heute noch tödlich sein.
Der ein oder die andere mag schließlich die Entdeckung machen, dass sein oder ihr Traumpfad jenseits des Dancefloors verläuft.