Wir alle träumen von der Liebe auf den ersten Blick. Immer wieder aufs Neue zelebrieren Romanzen jenen Moment, in dem zwei Augenpaare sich treffen und die Gewissheit einschlägt, am Ziel seiner Suche zu sein. Aber wie läuft so ein Moment außerhalb der vier Fernsehwände oder des Buchrahmens ab, im seltenen Fall, dass er wahr wird? Weit davon entfernt, hoffnungslos verloren zu gehen, schmeißen wir sofort die Analysemaschine an: Sei vorsichtig, du kennst diese Person doch gar nicht! Ihr zu verfallen, kann dich womöglich noch ins Unglück stürzen! Du weißt doch, Liebe macht blind! Und außerdem, gib dich nicht vorschnell her, das wäre fahrlässig, denn wer weiß, vielleicht wartet hinter der nächsten Ecke noch jemand Besseres!
In einer Schlüsselszene lässt Jane Austen ihren Protagonisten Knightley zu Emma sagen, sie sei das Liebste für ihn auf der Welt. Er sagt dies, ohne mit ihr geschlafen, ohne sie geküsst, ja sogar ohne sie jemals zuvor schon einmal berührt zu haben. In absoluter Unklarheit darüber, ob Emma seine Liebe erwidert, ist er sich seiner Liebe absolut klar. Emma daraufhin: ,,Bis gestern wusste ich nicht, dass ich dich liebe, aber jetzt weiß ich es.‘‘ Emma weiß einfach, dass sie ihn liebt, ,,ohne Ambivalenz, ohne Bedenkzeit, ohne dass sie zu einem Psychologen gehen muss, um sich über ihre Gefühle klarzuwerden‘‘, wie die Soziologin Eva Illouz dazu anmerkt.
Gemeinsam glücklich werden Emma und Knightley dann trotzdem nicht, die Regeln ihrer Zeit nehmen keine Rücksicht auf Gefühle. Heute ist es andersrum: Wir haben die Freiheit, uns auf den ersten Blick verlieben zu dürfen, und wir selbst stehen im Weg. Eine derart unbefangene Beziehung zu seinen Gefühlen ist heute unvorstellbar. Wir sind zu Skeptikern gegenüber unserem Gefühlsleben geworden. In Bezug auf unsere Gefühle haben wir unsere Unschuld verloren.
Das klingt seltsam. Genau das Gegenteil scheint der Fall zu sein, überall empfiehlt man, ,,mal den Kopf auszuschalten‘‘, ,,den Bauch sprechen zu lassen‘‘, und ,,emotional sein‘‘ ist ein Wert an sich geworden. Im gleichen Zug aber, in dem die Bedeutung des Emotionalen immer weiter aufgeblasen wurde, haben sich die Leute in Überforderte verwandelt. Diejenigen, die glauben, besonders emotional und leidenschaftlich zu sein und im Einklang mit ihren Gefühlen zu leben, die sich für authentisch halten, tun nichts anderes, als sich selbst und ihre Gefühle pausenlos zu überwachen. Was früher Aufgabe der Gesellschaft war, erledigt nun die und der Einzelne. In ellenlangen Monologen breiten sie im Psycho-Sprech mit seinen unbeholfenen, kitschigen Metaphern und Nullbegriffen ihr Gefühlsleben aus und beweisen damit, gerade eben nicht in unmittelbarem Kontakt zu ihm zu stehen.
Zu Zeiten Emmas arrangierten die Umstände die Gefühle. Deine Eltern suchten dir einen Ehepartner, du musstest ihn lieben (was in traditionellen Gesellschaften wie der indischen, wo die Zwangsehe immer noch Alltag ist, erstaunlich gut funktioniert). Gegenüber dem Adligen auf seinem Pferd musstest du demütig sein. Am Sonntag beim Betreten der Kirche hattest du andächtig zu sein. Deine giftige Großtante musstest du lieben, denn sie gehörte zur Familie. Vater und Mutter musstest du ehren, ganz gleich, ob sie dich in deiner Kindheit ausreichend spiegelten oder nicht. Jedes Gefühl hatte seinen Platz, und es war eindeutig, wann welches Gefühl gefragt war oder unangebracht. Es herrschte keine Verwirrung darüber, wann man trauerte, wann man fröhlich war und wann man liebte. Man trauerte, wenn es Zeit dafür war.
Vielleicht war der Stammeshäuptling, der mit steinerner Miene um seinen gefallenen Kameraden trauerte, authentischer als so mancher moderne Mensch, der einen Trauerfall erlebt und nicht weiß, welches Maß an Trauer nun angemessen ist, wie überhaupt getrauert werden soll und wie lange, an welcher ,,Trauernorm‘‘ er sich denn orientieren soll. Auch die Rituale, die Gefühlen eine Form gaben, sind weggefallen.
Keine Gesellschaft nimmt uns mehr die Entscheidung ab, ob und was wir wann wie fühlen. Seitdem geht ein Großteil unserer Energie dafür drauf, wenigstens ein Mindestmaß an Kontrolle zu bewahren und den inneren Dschungel zu überleben. Längst hat ein findiger Markt unsere Notsituation als Goldgrube erkannt und lockt uns mit Strohhalmen, an die wir uns klammern können. Wir suchen Hilfe bei selbsternannten Experten wie Psychologen und Coaches und Selbsthilferatgebern. Wir geben die Deutungshoheit über unser Gefühlsleben freiwillig aus der Hand.
Seit jeder seine Gefühle selbst zu verantworten hat, stellt ihn jede Gefühlsregung vor einen verästelten Entscheidungsbaum: Lasse ich mich darauf ein oder nicht? Wie stark lasse ich mich ein? Wie lange? Woher kommt das Gefühl, wo kann ich es einordnen? Ist es eher Wut oder Enttäuschung? Darf ich so fühlen, ist es unmoralisch, peinlich? Soll ich es zeigen? Und wenn ja, welches ist der angemessene Ausdruck, und wenn nein, wie kaschiere ich es glaubhaft?
Vielleicht fühlen sich Gefühle in engen Gesellschaften wohler. In unserer freien zerbröseln sie zwischen den Fingern. Ob das gut oder schlecht ist, bleibt Gefühlssache.