Engel

Sie hört, wie sich hinter ihr die Tür öffnet. Da weiß sie, dass er da ist. Noch kann sie ihn nicht sehen, sie sitzt mit dem Rücken zur Tür vor dem Fenster, durch das sie den Park und die Straße beobachten kann. Sie hat Ausschau nach ihm gehalten, seit Mittag sitzt sie hier und hat die Straße nach seinem roten Auto abgesucht. Seine Schritte kommen näher. Dann steht er neben ihr, beugt sich zu ihr hinunter und umarmt sie kurz.

>>Hallo! <<, sagt er.

Er löst die Bremsen ihres Rollstuhls und dreht sie herum. Jetzt kann sie ihn sehen, er steht vor ihr. Ihr Sohn trägt seine rote Jacke und schaut sie an und lächelt.

>>Ich freue mich, dass du da bist. <<, sagt sie. >>Ich habe schon gewartet. <<

Er fragt: >>Wie geht es dir? <<

Sie sagt: >>Gut. Ich wäre froh, wenn es so bliebe. << Es ist dieselbe Antwort wie immer.

Dann fragt er sie, ob sie zuerst in die Cafeteria oder in den Park möchte. Sie will nicht in den Park, sie möchte mit ihm in die Cafeteria und ihm erzählen, was sie erlebt hat. Es ist viel passiert. In der Cafeteria zu sitzen und ihm alles zu erzählen, das reicht ihr.

>>Ich muss heute nicht in den Park. Und es ist so kalt draußen. <<

Sie sieht, dass er einen kurzen Blick aus dem Fenster wirft, und dann sie wieder anschaut. >>Ein wenig frische Luft. <<, sagt er. >>Das wird dir gut tun. <<

Er geht gerne in den Park, das weiß sie. Jedes Mal, wenn er da ist, möchte er in den Park. Im Sommer geht sie gerne, wenn es warm draußen ist und die Blumen auf der Wiese im Park blühen. Aber im Winter, wenn es Raureif hat und die Bäume gar keine Blätter mehr tragen, ist es ihr zu kalt. Sie bleibt lieber drinnen. Aber ihm zuliebe geht sie mit in den Park, dann nimmt sie die Kälte auf sich.

>>Erst in die Cafeteria, dann in den Park. <<, sagt er und lächelt ihr zu. Er dreht sich um und geht zu ihrem Schrank, öffnet ihn und holt ihre warme Jacke heraus. Er hängt sie sich über die Schulter, sodass er beide Hände frei hat. Dann stellt er sich hinter sie und schiebt den Rollstuhl los. Sie hat lange gewartet auf ihn, aber jetzt ist er da, und sie spürt, wie er sie durch die Tür aus ihrem Zimmer schiebt.

Der Flur draußen ist hell erleuchtet von den Lampen an der Decke. Sie sind alleine, sonst ist der Flur leer. Sie sieht, wie rechts und links die Türen vorbeiziehen. Als sie an der Gruppe aus Sesseln, Stühlen, einem Tisch und einem Fernseher auf einem niedrigen Schrankvorbeikommen, sieht sie, dass die Sessel und Stühle wie immer leer und der Fernseher wie immer aus ist. Sie würde gerne einmal in diesem Sessel sitzen und durch die großen Fenster nach draußen auf den Park schauen. Oder sie würde den Fernseher anmachen und ein wenig fernsehen. Sie hat schon lange nicht mehr ferngesehen.

Sie hört eine Stimme. Durch eine der Türen rechts dringt die Stimme einer Frau, die singt. Jeden Tag, wenn sie im Flur ist, hört sie, wie sie ihr Lied singt, immer das gleiche Lied und immer den ganzen Nachmittag. Sie findet, dass es eine komische Stimme ist, eine seltsam krächzende, und manchmal fragt sie sich, ob es statt einer Frau ein Mann ist. Bei ihr ist es auch schon so weit, denkt sie jedes Mal, wenn sie sie singen hört, sie ist jetzt dement, wie die anderen.

Da muss sie an ihn denken. Wie er vorhin die ganze Zeit, fast ohne Unterbrechung auf der Straße vorbeigefahren ist und sie beobachtet hat. Das weiß er noch gar nicht. Das hat sie ihm noch gar nicht erzählt. Sie sind jetzt bei der Tür zum Fahrstuhl, er drückt den Knopf und die Tür schwingt auf, sie spürt, wie der Fahrstuhl nach unten fährt, und sie sagt: >>Vorhin, als ich nach dir Ausschau gehalten habe auf der Straße, ist Robin immer in seinen Autos hin- und hergefahren. Immer verschiedene Autos, die er in seiner Werkstatt repariert hat und nun ausliefern muss. Jedes Mal, wenn er vor meinem Fenster vorbeikam, ist er langsam gefahren und hat mir zugewinkt. Dann habe ich ihm ein Zeichen gegeben, dass ich ihn sehe und dass er sich keine Sorgen machen muss, und dann ist er weitergefahren. <<

In diesem Moment betreten sie die Cafeteria und sie nimmt den Geruch von Kaffee wahr, der in der Luft hängt. Die Cafeteria ist voll und die Stimmen der Leute vermischen sich miteinander, sodass sie keinen Sinn mehr zu haben scheinen in der großen, dichte Wolke aus verschiedenen Gesprächen. Während er sie an den Tischen vorbeischiebt, kann sie einzelne Worte verstehen. Sie versucht zu verstehen, worüber sie reden, aber es ist schwer. Als sie sich nach rechts dreht, sieht sie, dass Herr Groß am selben Tisch wie immer sitzt, bei der Theke, in seinem automatischen Rollstuhl. Der Stuhl ihm gegenüber ist leer und vor ihm auf dem Tisch steht eine Flasche Bier und ein Glas. Er blickt zu den anderen Tischen hinüber, und ab und zu hebt er sein Glas und nimmt einen Schluck Bier.

Sie finden einen Platz am Fenster hinaus zum Innenhof. Er schiebt sie an den Tisch heran, so weit es geht, stellt die Bremsen ein und setzt sich neben sie. Sie spürt seinen Blick auf sich. Jetzt weiß sie, dass er ihr zuhört. >>Er macht sich nämlich immer Sorgen. <<, sagt sie. >>Er sagt immer, wenn mir mal etwas passiert, ist er da, um mir zu helfen. Ich sage ihm immer, er muss sich keine Sorgen machen, mir passiert doch nichts, aber er lässt sich nicht davon abbringen. <<

Die Kellnerin kommt an ihren Tisch. Er bestellt einen Kaffee. Sie muss nicht lange überlegen, sie weiß, was sie nimmt. Den Apfelsaft. Den ganzen Tag hat sie sich schon darauf gefreut, mit ihm in der Cafeteria zu sitzen und einen Apfelsaft zu trinken. Der Apfelsaft hier ist besonders gut.

>>Er macht sich Sorgen um dich? <<, fragt er.

>>Ich sage ihm, das muss er nicht. Ich brauche niemanden, der mich die ganze Zeit überwacht. Aber er hat geantwortet, ich wäre anders als die anderen, ich wäre jemand Besonderes. Er hat mir gestern Abend auch die Tabletten gegeben gegen die Schmerzen in meinem Arm. Die haben sofort geholfen, dafür bin ich ihm sehr dankbar. Ich konnte gut einschlafen. <<

>>Er hat viel Arbeit, als Pfleger und Automechaniker. <<, sagt er.

>>Er beklagt sich immer darüber. <<, erklärt sie. >>Heute Morgen hat er sich beschwert, wie viel er im Moment zu tun hat. << Da fällt ihr ein, was er heute Morgen zu ihr gesagt hat. >>Wenigstens muss er im Winter nicht die Wiese mähen, hat er gesagt. <<, und sie lacht.

Die Kellnerin bringt seinen Kaffee und ihren Apfelsaft. Er öffnet die Flasche und schenkt ihr ein. Mit ihrer rechen Hand nimmt sie das Glas, hebt es hoch und nimmt den ersten Schluck. Er schmeckt so gut wie immer. Sie genießt es. Sie nimmt noch einen Schluck und stellt das Glas wieder ab.

Sie spürt, dass sie müde ist. Letzte Nacht hat sie unruhig geschlafen. Daran ist er schuld. Es war seltsam heute Nacht. Jetzt, wo es Tag ist, kommt es ihr vor wie ein Traum, nur dass sie weiß, dass es keiner ist. Davon muss sie ihm erzählen: >>Heute Nacht kamen sie wieder mit ihren Lastwägen. Von dem Piepen ihrer Lastwägen bin ich aufgewacht, dann habe ich durch das Fenster gesehen, wie sie durch den Park bis ans Heim heranfahren. Er ist aus seinem Lastwagen gestiegen, und zusammen mit den anderen hat er ihre Beute aus den Lastwägen ausgeladen und in die Küche gebracht. Ich habe sie dabei beobachtet, ich konnte nicht schlafen von dem hellen Scheinwerferlicht. << Sie sieht jetzt alles wieder klar vor sich und versucht, es so genau wie möglich zu erzählen. >>Sie waren wieder auf der Jagd heute Nacht, in den Bergen. Als sie fertig waren, haben sie ihre Lastwägen an der Straße geparkt. Ich wollte gerade wieder einschlafen, als ich gehört habe, wie er durch die Balkontür in mein Zimmer kam. Ich habe nur seinen Schatten gesehen, aber ich wusste, dass er es ist. Er war müde und erschöpft. Er hat sich in mein Bett gelegt, ans Fußende, und ist sofort eingeschlafen. Irgendwann bin ich dann auch wieder eingeschlafen. <<

Sie blickt ihn kurz an und er erwidert ihren Blick. Sie sieht, dass er ihr zugehört hat. Er nimmt seine Tasse und trinkt einen Schluck Kaffee. Dann wendet sie sich wieder dem Fenster zu und blickt nach draußen. Sie denkt an heute Mittag, als sie vor dem Fenster saß und die Straße beobachtet hat. Es hat geregnet, und er fuhr auf der Straße vorbei, immer von der einen Richtung in die andere, in verschiedenen Autos, die er in seiner Werkstatt repariert hatte und nun ausliefern musste. Und immer wenn er vor ihrem Fenster vorbeikam, fuhr er langsamer und sie sah genau, wie er sich zum Fenster vorbeugte und ihr zuwinkte. Und sie gab ihm ein Zeichen, dass sie ihn sah.

>>Heute Morgen stand ein Blumenstrauß auf meinem Tisch. Den hat er dort hingestellt, als Entschuldigung, dass sie heute Nacht so laut waren. <<

>>Den habe ich vorhin gar nicht gesehen. <<, sagt er.

>>Seine Frau, die große, dicke, hat ihn mitgenommen. Sie ist auch Pflegerin hier. Er hat gerade Streit mit ihr. Den ganzen Morgen saß er auf der Treppe hinter der Tür und hat sich versteckt vor ihr. Erst nach dem Frühstück kam er raus. Da saß ich allein im Esszimmer, und plötzlich habe ich zwei Hände auf meiner Schulter gespürt. Und als ich mich umdrehte, stand da Robin. Er hat sich entschuldigt für heute Nacht, und hat versucht, mich zu überreden, am Wochenende einen Ausflug mit ihm zu machen. Er hat es schon ein paar Mal versucht, aber ich will nicht mit. Ein Ausflug einen ganzen Tag lang, das ist umständlich. Aber er hat nicht aufgegeben, bis er gehört hat, dass seine Frau kam. Da ist er abgehauen. Seine Frau hat mich zurück aufs Zimmer gebracht. <<

Sie sucht mit der Hand ihren Apfelsaft. Er ist noch fast voll und sie nimmt einen Schluck. Er hat sich auf seinem Stuhl umgedreht, sodass er die anderen in der Cafeteria sehen kann. Sein Blick gleitet über die Leute, ohne dass er etwas Bestimmtes sieht. Dann steht er auf und geht vor zur Theke. Er kommt zurück mit einer Flasche Wasser und zwei Gläsern und schenkt ihr ein.

>>Gestern bin ich aus dem Urlaub zurückgekommen. <<, sagt er. >>Wir waren zwei Wochen in Frankreich. <<

Der Innenhof draußen ist ein runder, breiter Schacht, dessen Boden sie nicht sehen kann. Ihr gegenüber auf der anderen Seite geht hinter einem der Fenster Licht an. Sie fragt sich, ob er schon zurück ist. Sie behält das Fenster im Auge. Aber es ist nichts zu sehen.

>>Gestern war er mit seiner Kapelle hier. Er hat dirigiert, und ab und zu Saxophon gespielt. Sie haben gut gespielt. Ein paar haben getanzt, ich habe zugeschaut. Da hab ich plötzlich gehört, wie jemand hinter mir Saxophon spielt, und im nächsten Moment stand er neben mir und hat mir etwas vorgespielt. << Sie hält kurz inne, um sich zu vergewissern, dass er versteht, was sie sagt. Sie schaut noch immer in den Innenhof, auf das beleuchtete Fenster, und sie spürt seinen aufmerksamen Blick auf sich. Er sitzt neben ihr und hört ihr zu. >>Als er fertig war, wollte er tanzen. Ich habe gesagt, es geht ja nicht, wegen dem Rollstuhl, weil es gefährlich ist, aber er hat mich auf die Tanzfläche geschoben, mich vor sich her, die Kapelle hat weitergespielt und wir haben getanzt. << Jetzt erinnert sie sich wieder, wie die Musik ging. Sie hört sie, so deutlich, als wäre es noch gestern. Hinter sich spürt sie seine Hände am Rollstuhl, und er schiebt sie im Takt zur Musik, und sie sieht, wie die Welt sich dreht, und sie spürt, wie der Rollstuhl kippt, wenn er eine Kurve macht, und auf dem linken Rad steht, aber der Gurt hält sie. Ob es ihr gefällt, fragt er, und sie sagt, ja, es gefällt mir.

In diesem Moment erscheint ein Schatten hinter dem beleuchteten Fenster auf der anderen Seite des Innenhofs. Sie hat schon einen Verdacht. Er hebt sich deutlich vor dem Licht der hellen Lampen ab. Das Fenster öffnet sich. Da steht er, sieht zu ihr hinüber und winkt kurz. Kein Zweifel, er ist jetzt zurück, für heute fertig damit, Autos auszuliefern. Sie hebt den rechten Arm und winkt zurück, damit er weiß, dass sie ihn sieht.

>>Was ist? <<, fragt er neben ihr.

>>Da ist er. Er ist wieder zurück. <<

>>Wo denn? <<

Das Fenster ist hell erleuchtet, alle anderen sind dunkel. Seine Gestalt zeichnet sich im Fensterrahmen ab, er hat aufgehört zu winken, und sieht nur zu ihr herüber. >>Dort. Am Fenster. << Es wundert sie, dass er es nicht sofort sieht.

>>Ich sehe nichts. <<, sagt er. >>Da ist niemand. <<

Sie hat auf einmal ein seltsames Gefühl. Es ist, als ob ihr übel ist, ein seltsames, unangenehmes Gefühl irgendwo in ihrem Bauch, das ihr angst macht. Sie weiß nicht, was es ist. Sie überlegt, was das sein könnte und woher es kommt, aber ihr Kopf ist wie taub. Sie will etwas sagen, aber sie kann ihren Mund nicht öffnen. Es ist, als hielten unsichtbare Klammern ihre Kiefern fest.

>>Das ist nur das Licht hier drinnen, das sich in der Scheibe spiegelt. <<

Das Bild vor ihren Augen verschwimmt, als befinde sie sich unter Wasser und starre hoch zur Wasseroberfläche. Im nächsten Moment ist er verschwunden und sie sieht nur noch einen hellen Fleck, einen verschwommenen, hellen Punkt vor sich. Das Gefühl ist auf einmal sehr stark, es ist, als breite es sich aus, in ihre Beine, in ihren rechten Arm, nur im linken Arm, da spürt sie nichts. Sie überlegt, ob sie krank ist. Vielleicht hat sie Fieber. Sie hört eine Stimme in ihrem Kopf. Sie versucht, der Stimme zuzuhören, und zu verstehen, was die Stimme sagt. Sie konzentriert sich nur auf diese Stimme, bis sie klar und deutlich zu hören ist. Es ist seine Stimme. Er hat ihr gestern gesagt, dass sie vorsichtig sein soll, jetzt im Winter. Sie muss sich warm anziehen, sonst erkältet sie sich.

>>Wollen wir in den Park? <<, hört sie ihn fragen.

Als sie die Lippen öffnet, sind die Klammern verschwunden. >>Haben wir meine warme Jacke dabei? <<

Sie hört, wie er ja sagt. Das Gefühl ist schon wieder schwächer und fast weg. Als sie aus dem Fenster schaut, ist das Licht gegenüber erloschen und das Fenster geschlossen. Sie hat ihm gestern versprochen, dass sie vorsichtig ist. Er muss sich keine Sorgen um sie machen, sie passt schon auf sich auf.

Als sie sich umdreht, begegnet sie seinem Blick. Er macht sich auch Sorgen um sie, aber das muss er nicht.

Er bezahlt vorne an der Theke. Dann nimmt er ihre Jacke vom Stuhl und hilft ihr, sie anzuziehen. Er selbst zieht seine rote Jacke an, löst die Bremsen am Rollstuhl und schiebt sie los. Auf dem Weg aus der Cafeteria spürt sie, wie Herr Groß ihnen mit dem Blick folgt.

Draußen ist es kalt. Als sie die Kälte spürt, hat sie gar keine Lust mehr auf den Park und will wieder zurück, in ihr Heim, wo es warm ist.

 >>Ist dir kalt? <<, fragt er.

Sie will nicht, dass er wegen ihr wieder umkehrt. Sein Gesicht ist gerötet und an der Art und Weise, wie er lächelt, erkennt sie, dass er zufrieden ist. Er genießt die Kälte und die Winterluft. Gleichzeitig sieht sie, dass er immer noch besorgt ist. Da ist etwas in seinem Blick, das sie auch schon vorhin bemerkt hat, derselbe fragende, unsichere Ausdruck, als würde ihn irgendetwas beunruhigen oder verunsichern.

>>Nein, die Jacke hält warm. << Aber sein Blick bleibt unverändert.

Der Weg ist noch nass vom Regen heute Mittag. Die Luft ist durchdrungen von dem Geruch nach aufgeweichter Erde. Es ist kaum jemand unterwegs im Park, nur ein paar Fahrradfahrer und einige vereinzelte Spaziergänger mit ihren Hunden. Sie beobachtet die Straße. Von hier unten sieht alles anders aus als von ihrem Fenster, die Autos fahren schneller und sie kann sie hören, die Reifen auf dem nassen Asphalt. Ein schwacher Wind bläst, der durch das grüne Gras fährt und durch die kahlen Äste, die jetzt keine Blätter mehr tragen und die, wie sie findet, so leer aussehen.

An einer Kreuzung fragt er sie, in welche Richtung sie will, aber es ist ihr egal. Links ist die Straße und sie hält Ausschau. Er beobachtet sie, sie spürt es, und irgendwo hier in der Nähe ist er.

>>Jetzt in den Ferien waren wir zwei Wochen in Frankreich. <<, sagt er. >>Wir sind gewandert, das Wetter war schön, und gestern Abend sind wir zurückgekommen. <<

Sie bemerkt den Fahrradfahrer, der auf der Straße auf der Seite fährt, die dem Park zugewandt ist, und langsam näherkommt. Kurz überlegt sie. Er kommt ihr bekannt vor. Es ist derselbe Fahrradfahrer, der vorhin schon einmal vorbeigefahren ist. Im Licht der Straßenlaterne erkennt sie seine blaue Jacke. Da gibt es keinen Zweifel mehr, sie hat sich nicht geirrt. Im Vorbeifahren ruft er noch: >>Ich fahre kurz nach Hause. Zum Abendessen bin ich zurück. << Dann biegt er um die Kurve.

>>Es ist viertel nach fünf. <<, sagt er. >>Es gibt gleich Essen. Wir machen uns mal auf den Rückweg. <<

Die Straße rückt aus ihrem Blickfeld, rechts sieht sie die Wiese, ein paar Bäume, Sträucher, und hinten, ein Stück entfernt, ein großes, weißes Gebäude. Irgendwo in der Nähe bellt ein Hund.

>>Er hat auch einen Hund. <<

>>Das hast du noch nicht erzählt. <<, hört sie ihn sagen. Etwas an seiner Stimme klingt seltsam, sie ist jetzt sicher.

>>Einen Schäferhund. Manchmal geht er hier im Park mit ihm spazieren. <<

Sie spürt mittlerweile die Kälte durch die Jacke. Es ist dunkel geworden. Der Wind ist jetzt stärker und dringt durch die Jackenärmel. Ihre Hände sind schwer und starr. Sie will die linke Hand massieren, wie es die Schwester ihr angeordnet hat, aber sie kann sie kaum bewegen, als komme der Befehl von ihrem Kopf in ihrem frierenden Körper nur langsam voran.

Sie sind jetzt fast bei dem weißen Gebäude und sie mustert es neugierig. An der längeren Seite befinden sich auf beiden Stockwerken in zwei Reihen Balkone. Außer eines Fensters brennt hinter fast allen Licht.

>>Das dort ist dein Zimmer. <<, sagt er hinter ihr, bevor er links abbiegt und auf eine Tür zufährt.

Das bestätigt ihren Verdacht. Er hat den Irrtum nicht bemerkt. Es ist auch schwer, beide Heime sehen fast genau gleich aus. Es wundert sie nicht, dass er hereingefallen ist. Aber sie muss ihn jetzt auf den Fehler aufmerksam machen.

>>Wir sind falsch. <<, sagt sie. >>Das ist das andere Heim. Wir müssen in das richtige. <<

Aber er hat schon den Knopf gedrückt und die Tür schwingt auf, und im nächsten Moment sind sie drinnen. Sie spürt, wie die warme Luft sie umgibt wie eine weiche, schwere Decke und die Kälte aus ihrem Körper weicht, aber es ist das falsche Heim. Er schiebt sie den Flur entlang, mit gleichmäßiger Geschwindigkeit, ohne anzuhalten. Er scheint sie nicht gehört zu haben.

>>Es sieht genau gleich aus. <<, sagt er jetzt. >>Es sind dieselben Bilder an den Wänden und dieselben Türen. Sogar die gleichen Namen. <<

Sie sieht die hellgelben Wände, die Türen aus lackiertem Holz und die Bilder, Blumen aus buntem Aquarell. Die Bilder kennt sie. Es sind dieselben, die auch im anderen Heim hängen, in dem richtigen. Auch die Wände und die Türen sind dieselben. Es ist alles wie in ihrem Heim, aber es ist nicht das richtige.

>>Hier gibt es bestimmt auch Abendessen. <<, sagt er. Es ist wieder diese Stimme, die seltsam klingt, als wäre irgendetwas. Als würde er etwas wissen, es aber nicht sagen wollen. Das beunruhigt sie.

Mit dem Fahrstuhl fahren sie nach oben. Im Flur riecht es nach Kürbissuppe und Salat. Als sie das Esszimmer betreten, sitzen an zwei Tischen mehrere Personen, die schon mit dem Essen begonnen haben. Er schiebt sie an ihren Platz, nahe genug an den Tisch, sodass sie gut sitzen kann, und stellt die Bremsen ein. Vor ihr auf dem Tisch steht ein Teller mit Kürbissuppe. Er fragt sie, ob sie Tee oder Wasser möchte. Sie sagt, Tee, und er schenkt ihr ein.

Dann sagt er, dass er jetzt gehen muss. Sie nickt. Er legt ihr eine Hand auf die linke Schulter, beugt sich zu ihr hinunter und umarmt sie. Nächsten Sonntag, sagt er, kommt er wieder. Dann dreht er sich um und verlässt das Esszimmer. Er nimmt den Fahrstuhl, durchquert die Cafeteria, die jetzt leer ist, blickt kurz auf den Innenhof, dessen Umrisse schwach zu erkennen sind, und öffnet die Tür. Dann ist er draußen. Auf dem Rückweg zu seinem Auto denkt er daran, dass sie noch immer nicht weiß, dass er in Frankreich war. Er denkt an Robin, und an den Hund, den es nicht gibt.

Als er gegangen ist, beginnt sie zu essen, aber sie hat keinen großen Hunger. Sie trinkt den Tee aus und schenkt sich noch einmal ein. Als sie die Tasse in die Hand nimmt, spürt sie, wie er seine Hand auf ihre linke Schulter legt. Da weiß sie, dass sie richtig ist.

Dezember 2013