Tausch des Tages

Herr Mindell war ein Mensch, der von ganz und gar bösartiger Natur zu sein schien. Seinen Sohn, der noch immer in seinem Haus wohnte, schimpfte er jeden Tag einen Taugenichts, Maurice, der ihm beim Verkaufen auf dem Markt half, warf er unzählige Beleidigungen an den Kopf und überhaupt konnte er nicht anders als an jedem, der den Fehler machte ihm über den Weg zu laufen, etwas auszusetzen.

In Wahrheit aber war Herr Mindell ein trauriger Mensch. Seine Frau hatte ihn schon vor Jahren verlassen, sein Leben war trist und eintönig und er war enttäuscht von seinem unselbstständigen Sohn. Seine Traurigkeit aber verbarg er hinter der Fassade eines griesgrämigen, abweisenden Mannes, der langsam alt wurde und dem zu helfen – was Herr Mindell von allen Dingen auf der Welt am meisten scheute – niemand dachte und niemand wollte. Herr Mindell hielt die Menschen von sich fern, hielt nichts von Freunden und jeder, der ihm begegnete, litt darunter. Und eines Tages wachte er auf und stellte fest, dass er seine Beine nicht bewegen konnte.

Er wollte aufstehen. Seine Arbeit begann früh am Morgen und sein Wecker klingelte um halb sechs und gerade war er von ihm aus dem Schlaf gerissen worden und jetzt wollte er aufstehen, wie sonst, frühstücken, wie sonst, und sich missvergnügt zur Arbeit schleppen, wie sonst. Er wollte seine Beine aus dem Bett schwingen, aber da tat sich nichts. Überhaupt, stellte er fest, verspürte er ein ganz und gar eigenartiges Gefühl im unteren Teil seines Körpers. Es war ein Gefühl, dass er noch nie zuvor gespürt hatte und das einzuordnen ihm unmöglich war. Deshalb war Herr Mindell erst einmal verwirrt. Er stemmte sich mit den Armen hoch. Er saß jetzt auf dem Bett. Er wollte die Beine hinunter von der Matratze schieben. Da war nichts.

Schnaubend warf er die Bettdecke von sich und betrachtete seine Beine. Er stellte fest, dass sie sehr dünn waren. Die Knochen traten unter der Haut hervor und sie sahen ganz und gar kraftlos aus. Gewiss, Herr Mindell hatte noch nie irgendeinen Sport getrieben, aber so dünn waren seine Beine noch nie gewesen. Sie waren ausgetauscht.

In diesem Moment, gerade als Herr Mindell diesen Gedanken gedacht hatte, entdeckte er den Rollstuhl. Er stand neben dem Bett. Herr Mindell schrie auf. Bei seinem Anblick erfasste ihn ein großes Entsetzen, das ein ängstliches Zittern in ihm auslöste. Schauer jagten ihm über den Rücken. Im selben Augenblick sprang die Tür zu dem Zimmer auf und sein Sohn trat ein. Dessen sonst so gewohnt gleichmütiges Gesicht trug jetzt ungeduldige Züge und gleichzeitig war es schlaff und müde.

>>Morgen! <<, murmelte der Sohn. >>Du musst nicht schreien, Vater, ich komme. Du bist noch nicht im Rollstuhl? Komm, ich helfe dir. << Das alles sagte der Sohn in einem einzigen Redefluss, hastig und schnell, als leiere er es zum hundertsten Male herunter. Herr Mindell war unfähig irgendetwas zu sagen. Er starrte seinen Sohn an und suchte darin einen Hinweis, dass dies hier ein Scherz war. Doch sein Sohn erwiderte seinen Blick nicht. Es war ein fremder Mann, der vor Herr Mindell stand, er war ausgetauscht, und andererseits besaß der Sohn etwas Beruhigendes für ihn. Er packte Herr Mindell sanft bei den Schultern und hob ihn in den Rollstuhl. Seine Beine hingen kraftlos an ihm herunter, verwelkte Glieder, und Herr Mindell fühlte sich dabei unglaublich alt.

Der Sohn schob ihn in die Küche. Dort blieb Herr Mindell reglos am Tisch sitzen und starrte auf die Tischplatte. >>Willst du nichts? <<, fragte sein Sohn. Er nahm ein Messer und wollte eine Brotscheibe mit Butter beschmieren, aber Herr Mindell schüttelte den Kopf. Er hatte keinen Hunger.

Dann verließen sie die Wohnung. Sie wohnten im obersten Stock eines Mehrfamilienhauses, das keinen Fahrstuhl besaß, sondern nur Treppen. Während sein Sohn den Rollstuhl mit Herrn Mindell Stufe um Stufe hinuntertrug, versuchte Herr Mindell steif dazusitzen. Er verstand nicht, was hier vorging. Aber er spürte die Anstrengung seines Sohnes, der ihn trug, die sich dieser jedoch nicht anmerken lassen wollte und Unwille ergriff ihn. Sie waren fast unten angekommen, als Herr Mindel fragte: >>Geht es? <<

Sein Sohn sagte nur: >>Ja. << Die letzte Stufe war überwunden, die Hände des Sohnes lösten sich vom Rollstuhl. >>Wiedersehen! <<, und seine Schritte verhallten im Treppengewölbe. Herr Mindell war allein.

Er musste zur Arbeit. Das war der einzig klare Gedanke, der in Herrn Mindells verwirrtem Kopf herrschte. Seine Arbeit konnte nicht ausgetauscht worden sein.

Schon die Tür zu öffnen, die nach draußen führte, war schwierig. Als Herr Mindell schließlich auf den Gehweg rollte, fiel ihm ein, dass er nicht wusste, wie man einen Rollstuhl bremste. Die Straße vor ihm war trotz des noch frühen Tages bereits sehr lebhaft. Er wollte schreien, doch es war nur ein ersticktes Krächzen, das sich seiner trockenen Kehle entrang. Ich werde sterben, dachte er. Der Rollstuhl erreichte den Rand des Gehwegs. Er kippte. Er wurde von hinten gepackt und von der Straße weggerissen.

>>Meine Güte, alles in Ordnung, Herr Mindell? << Das Gesicht einer Frau bewegte sich in Herrn Mindells Blickfeld. Er erkannte sie sofort. Es war Frau Mim, die er jeden Morgen traf, die er eine >ungenießbare Tante< nannte und bespöttelte, während sie auf ihn einredete.

Herr Mindell war unfähig zu antworten und er nickte nur. >>Da wären sie ja beinah – na ja, sie wissen, was ich meine. Sie Armer! Warten sie, ich schieb sie rüber! << Sie schob ihn zu einem Zebrastreifen und wenig später waren sie auf der anderen Seite der Straße. Herrn Mindell gegenüber befand sich der Markt, auf dem sein Stand war. >>Danke! << Mehr brachte er nicht hervor. Frau Mim nickte eifrig und ging.

Maurice, sein Gehilfe, war jeden Morgen zu spät aus dem einfachen Grund, weil er abends zu spät nach Hause kam und zu wenig schlafen konnte. Herr Mindell schimpfte deshalb jeden Morgen mit ihm und ließ ihn als Strafe abends länger bleiben. Er selbst kam immer einige Minuten früher als Maurice,  damit er mit diesem schimpfe konnte.

Aber heute war Herr Mindell, der immer vor Maurice beim Stand war, durch Maurice ausgetauscht worden. Heute war Maurice vor ihm da.

>>Guten Tag! <<, begrüßte er Herrn Mindell. Der nickte. Er nickte und konnte nichts sagen, weil ihm plötzlich übel wurde, so verwirrt war er. Die ersten Menschen kamen. Sie alle hätte Herr Mindell drangsaliert, wenn er nicht im Rollstuhl gesessen hätte. Ihm gingen viele merkwürdige Gedanken im Kopf herum. Er hatte oft über seine bereits alten Gelenke gejammert, über sein fortgeschrittenes Alter, doch er hatte laufen können. Jetzt war sein Körper ausgetauscht worden. Herr Mindell war nicht mehr der, der er gewesen war.

Die meisten Käufer bediente Maurice. Herr Mindell hatte nicht viel zu tun. Als es Abend wurde, schickte er Maurice pünktlich nach Hause und er selbst quälte sich zurück, über die Straße zu seinem Haus, wo sein Sohn ihn erwartete. Er wurde hochgetragen und diesmal schnaufte sein Sohn merklich und Herrn Mindell traten die Tränen in die Augen, weil er noch nie etwas für seinen Sohn getan hatte. Er hatte überhaupt noch nie irgendeinem Menschen geholfen.

Er hatte großen Hunger, aber keine Lust zu essen. Er verdrückte mit Mühe eine Scheibe Brot mit Käse, dann brachte sein Sohn ihn ins Schlafzimmer, wo Herr Mindell an diesem Morgen mit ausgetauschtem Körper aufgewacht war. Er konnte lange nicht schlafen. Er wollte nicht weinen, doch trotzdem tat er es. Schließlich wischte er sich die Tränen aus dem Gesicht und beschloss, sein Leben gegen das eines neuen Herrn Mindells zu tauschen.

Als Herr Mindell am nächsten Morgen erwachte, strich er langsam mit den Fingerspitzen über seine Beine. Sein Herzschlag beschleunigte, sein Magen schien sich umzukehren und nur mit Mühe konnte er die Tränen zurückhalten, als er Wärme in diesen Beinen spürte. Er stand auf und machte ein paar vorsichtige Schritte. Seine Beine, überhaupt dieser Morgen löste eine Euphorie in ihm aus, wie Herr Mindell sie noch nie gespürt hatte. Plötzlich verspürte er eine Art von Gefühl, das ihm alles kostbar erscheinen ließ. Es war, als löse sich ein Schleier von seinen Augen, der schon viel zu lange seinen Blick vernebelt hatte.

Endlich verließ er das Zimmer. In der Küche saß bereits sein Sohn. Herr Mindell begrüßte ihn. >>Wie geht es dir? <<, fragte er, während er sich ein Brot schmierte.

Sein Sohn legte die Zeitung weg. >>Keine Arbeit. <<, antwortete er. Seine Augen hatte er bei diesen Worten niedergeschlagen. Er schämt sich, ging Herrn Mindell auf. Er klopfte seinem Sohn aufmunternd auf die Schulter. Dabei fiel ein weiterer Schleier von seinem Herzen.

Als er auf den Markt kam und Maurice wenige Minuten später, schenkte Herr Mindell ihm ein Lächeln. Er begann mit Maurice eine Unterhaltung über beliebige Themen, die ihm einfielen. Mittags kaufte Frau Mim bei ihnen ein, sie verstrickte Herrn Mindell in ein Gespräch über Belanglosigkeiten, er schmunzelte und trug ihr die Einkaufstasche nach Hause.

Lange genug hatte sich Herr Mindell von Trübsal durchs Leben leiten lassen. An diesem Tag beschloss er, sie gegen Zufriedenheit zu tauschen.

März 2011