Tischtennis

Es war ein Tag wie immer. Er nahm das Geld, das sein Vater ihm auf den Tisch gelegt hatte, verließ die Küche, dabei spürte er den Blick der roten Augen, zog die Turnschuhe an und trat durch die Tür. Im Treppenhaus war alles still, er hörte nur das Geräusch seiner Schritte. Unten lehnte er sich gegen die Tür, um sie zu öffnen, wie immer, und trat nach draußen. Auf der Kiesfläche waren die Kinder, ihre Stimmen hallten zwischen den Häuserwänden wider, das dumpfe Geräusch, wenn sie sich auf die Rutsche setzten, und das klirrende, wenn sie Steine auf sie warfen. Links ging es den Weg entlang über den Parkplatz bis zur Straße und an der Straße entlang bis zum Automaten. An der Tischtennisplatte spielten zwei Jungen. Es war das erste Mal, dass er jemanden an dieser Platte Tischtennis spielen sah, und er blieb stehen, ging nicht den Weg zum Automaten, wie immer, trotz des Geldes des Vaters in seiner Tasche, stattdessen beobachtete er die Jungen.

Nach einer kurzen Zeit legten die Jungen die Schläger auf die Platte, gingen zur Schaukel, sprangen in den Kies und verschwanden in dem Haus gegenüber. Erst da setzte er sich in Bewegung, aber nicht nach links, den Weg entlang zum Automaten, sondern über den Kies und vorbei an der Rutsche. Vor der Tischtennisplatte blieb er stehen, spreizte die Beine, spannte den Körper an, und Blick nach vorne an das andere Ende. Kurz stand er so, bewegte sich nicht, atmete nur. Es war kalt, die Luft brannte in seiner Lunge. Er trug keine Jacke, bisher war ihm die Kälte nie aufgefallen, aber auf einmal spürte er sie. Dann nahm er den Schläger in die rechte Hand und den Ball in die linke, und er dachte, er weiß nicht, wie man Aufschlag macht, und auch nicht, wie man Tischtennis spielt, aber da war seine rechte Hand schon nach vorne geschwungen und traf den Ball. Er berührte die andere Seite und fiel in den Kies.

Den Aufschlag wiederholte er bis zum Abend. Dann steckte er den Schläger unters T-Shirt, den Ball in die Tasche, und durch den Kies ging er zum Haus. Oben öffneten die roten Augen, wo sind meine Zigaretten. Die Augen weiteten sich bei seiner Antwort, der Automat war leer, doch zwischen Vater und Wand ging er zu seinem Zimmer. Dort legte er den Schläger auf den Schreibtisch. Er betrachtete seinen Schläger.

Am nächsten Tag zog er Turnschuhe an, Ball in die Tasche, Schläger unters T-Shirt und Tür auf, bei der Mahnung der roten Augen, zwei Päckchen, war er schon raus. Draußen war es kalt, doch als er zu spielen anfing, war ihm warm. Nach einer kurzen Zeit stoppte er, ging durch den Kies zur Tür, rasch, daneben lag ein Haufen Sperrmüll. Er fand ein Brett, groß genug, nahm es, kehrte zurück und lehnte es gegen das andere Ende der Platte. Dann machte er Aufschlag und der Ball kam zurück, und seine Füße im Kies gingen vor und hinter und seitwärts fast so, als würde er tanzen.

Plötzlich standen die Jungen hinter ihm, von gestern, und riefen ihm zu. Er musste aufhören und sich umdrehen. Sie blickten ihn an, mit schmalen Augen. Ihre Körper waren angespannt, wie seiner. Er schüttelte den Kopf, legte den Ball ab und zog das Geld aus der Tasche, dabei ließ er den Schläger nicht los. Sie grinsten, streckten die Arme aus, steckten das Geld in die Taschen, und über den Kies gingen sie davon. Da konnte er weiterspielen.

Am Abend sah er direkt in die roten Augen. Sie waren weniger rot als sonst, weil weniger Rauch in der Küche war, er war überrascht, wie anders sie aussahen. Der Automat ist immer noch leer, aber das genügte nicht, er hatte sich eine Antwort überlegt. Der Kiosk, sagte er, du hättest zum Kiosk gehen können. Der ist zu, erklärte er, dienstags. Diesmal war der Raum zwischen Vater und Wand enger. Morgen, sagte er, du schuldest mir zwei Päckchen. Die Augen sahen ihm nach, kaum noch rot, fast wie richtige Augen.

Sie kam erst nach dem Essen, begrüßte sie und blickte zwischen Tisch und Wand. Es ist kalt draußen, sagte sie. Dann setzte sie sich zu ihnen.

Am Morgen war Schule, aber mit geschlossenen Augen stand er vor der Tischtennisplatte, gespreizte Beine, Körper angespannt, und plante jede Bewegung. Trotzdem war er schnell, sein Blick folgte dem Ball und verlor ihn nie. Unter seinem Tisch hoben und senkten sich die Füße nach genauem System.

Er hatte noch eigenes Geld in seinem Zimmer. Das nahm er, für den Automaten, steckte die Päckchen in die Tasche und spielte. Der Ball war alles, was er sah, und gleichzeitig sah er nichts, nicht den Ball, nicht die Platte, gar nichts. Aber er verfehlte nie. Sein Gegner auch nicht. Er sprang hoch, holte aus und schlug, so fest er konnte, aber er kam zurück, jedes Mal. Es war ein seltsames Gefühl, wenn er sprang. Unter seinen Füßen war kein Kies mehr, nur die kalte, unsichtbare Luft.

Wo er den ganzen Tag ist, fragte er ihn dann abends. Seine Antwort, spielen, mit den anderen,  stellte ihn nicht zufrieden. Er gab ihm die Päckchen und er fragte nicht länger. Er ging in die Küche, er in sein Zimmer. An diesem Abend kam sie früher als sonst. Er hörte ihre Stimme aus der Küche, hörte, was sie sagte. Er sagte nichts, nur: Der Rauch stört mich nicht. Aber am nächsten Tag war das Fenster offen.

Er traf jetzt auch, wenn er weiter weg stand, zwei Meter von der Platte, sein Arm war sicher, wie mechanisch. Manchmal war Wind, der blies den Ball zur Seite. Dann drückten seine Füße sich vom Boden, sprangen nach vorne, kamen auf, und indem er leicht in die Knie ging und den Arm leicht schwenkte, lenkte er den Ball zurück in die Mitte. Er kam immer zurück, der Ball, aber auch er traf immer.

Ab jetzt zählte er mit. Zuerst waren es siebzig, die er schaffte, bis der Ball den Kies berührte. Als es dunkel wurde, zu wenig Licht, als dass er weiterspielen konnte, waren es dreihundertzweiundfünfzig. Beim Essen zählte er lautlos, mit geöffneten Augen und ohne sich zu rühren, aber das war nicht nötig.

Der Rauch war nun dichter als bisher, trotz des offenen Fensters. Er saß am Küchentisch, wie immer, nur tiefer als sonst. Schultern gegen die Lehne, Beine nach vorn gestreckt, der Kopf seitwärts. Es sah aus, als würde er schlafen, aber das Geld lag auf dem Tisch, daran dachte er immer. Es kam jetzt öfter vor, dass sie sich unterhielten am Abend, laut, sodass er es hörte. Er hörte nicht zu, er lag in seinem Bett mit geschlossenen Augen und plante für morgen das Spiel. Trotzdem störte das Geräusch.

Einmal waren die Augen so rot, dass er sie den ganzen Nachmittag vor sich sah, die ganze Zeit beim Spielen. In der Tasche steckten die Päckchen, und egal wie schnell, egal wie sicher er spielte, er spürte sie, sperrig und schwer. Nach einer Weile war es nicht möglich weiterzuspielen, also zog er sie aus der Tasche, ging über den Kies bis dorthin, wo der Kies aufhört und das Gras beginnt, und warf sie in den Müll. Am Abend war er das erste Mal laut. Er sah die Augen nicht, niemand hatte das Licht im Flur angemacht, aber er wusste, sie waren weit offen. Es gab nicht viel zu sagen, er hat sie verloren, aber das glaubte er ihm nicht. Als könne er nicht hören, hielt er ihn an den Schultern und ließ nicht los. Später, als er in seinem Zimmer war und die Tür zwischen ihnen, in der der Schlüssel steckte, gab er keine Ruhe. Aber da stand er neben seinem Schreibtisch, mit gespreizten Beinen, Körper angespannt und die Hand mit dem Schläger vor und zurück.

Er musste den Ball nur oben halten, das war alles. An einem Nachmittag spielte er von Mittag bis Abend, ohne abzusetzen, es war nicht anstrengend, er war fast nicht da. Er spürte nicht seinen Arm, nicht seine Beine, nicht die Augen, die immer offen waren. Während er spielte, stand er neben sich selbst und sah sich zu.

Als er bei neunhundertvierzehn war, unterbrach sie ihn, um es ihm zu erklären. Wir können uns nicht mehr einigen, sagte sie in seinem Zimmer. Wir finden keine Lösung mehr. Wir haben beschlossen, dass ich gehe, mit euch. Er dachte, neunhundert ist eine gute Zahl, aber er könnte mehr schaffen. Er nickte. Er wartete, bis sie aus seinem Zimmer war. Sein Blick war nicht so scharf wie sonst, der Boden war undeutlich vor seinen Augen. Er musste sich den Ball ins Gedächtnis rufen, es gelang nicht auf Anhieb. Erst bei vierundfünfzig hoben und senkten sich die Füße wieder, sein Körper war angespannt und der Ball flog klar vor ihm.

Es ging zwei Tage, eine kurze Zeit. Die roten Augen in der Küchentür blickten geradeaus, aber als er sich umdrehte und durch die Tür ging, spürte er, dass sie ihn ansahen.

Mit dem Auto einer Frau fuhren sie los, er kannte ihr Gesicht, weil sie schon einmal in der Wohnung gewesen war, eine halbe Stunde Fahrt, dann hielten sie. Weil die Wohnung klein war, mussten er und die Schwester sich ein Zimmer teilen. Neben dem Bett stand eine Uhr, da sah er, dass es schon drei war. Er zog Turnschuhe an, nahm Schläger und Ball und ging nach draußen, um die verlorene Zeit aufzuholen. Es gab einen Spielplatz, eine Straße weiter, mit Tischtennisplatte, aus Beton, mit Metallnetz. Er spielte gegen das Netz, damit der Ball nicht zu Boden fiel. Er zählte mit. Er ließ keinen Schlag aus. Als die Lichter angingen, lief er die Straße entlang und hielt Ausschau. Es dauerte eine Stunde. Neben der Straße, auf einer Wiese, fand er einen Tisch, aus Metall, wie neu, den nahm er, zwischendurch setzte er dreimal ab, und stellte ihn gegen die Platte. Dann ging er ins Haus. Nachts konnte seine Schwester nicht schlafen. Das Licht musste an bleiben. Egal wie fest er die Augen schloss, es drang durch seine Lider. Bei zweitausendzwei schlief er ein.

Es gab ein neues Geräusch, wenn der Ball den Tisch traf, ein klirrendes, wie früher die Steine auf der Rutsche. Einmal kam seine Schwester über die Straße und blieb neben ihm stehen. Er spielte weiter, Blick geradeaus. Nach einiger Zeit sagte sie, du hast viertausend. Du hast den Ball viertausend Mal getroffen. Sein Arm schwenkte vor und zurück und spielte den Ball, dabei drehte er den Kopf in ihre Richtung. Halte ihn oben, sagte sie. Du musst ihn oben halten. Am Abend, nebeneinander, gingen sie zurück zur Wohnung. Nachts brannte das Licht. Er war es gewohnt jetzt, er brauchte es.

Wenn du im Verein spielst, lernst du andere kennen, die dasselbe tun wie du, hatte sie gesagt. Er trat durch die Tür in die Halle und der Boden war weich und glatt unter seinen Schuhen, seinen neuen, er spürte ihn kaum. Er sah die Platten, grün, die Flächen aus Plastik, die Seiten aus Metall, das Netz aus schmalen, dünnen Schnüren. Es gab keine Unebenheit, kein Loch, keinen Fehler, er konnte noch so oft mit der Hand alles abtasten und fand nichts.

Als er Aufschlag machte, war es anders als alle anderen Aufschläge bisher. Der Boden war vollkommen, die Platte war makellos, und sein Spiel musste genauso fehlerfrei sein. Die Blicke in der Halle waren lose, entspannt, aber änderten sich. Die Augen wurden starr und die Lider senkten sich oder wurden hochgezogen. Nach dem letzten Ball auf dem Boden war der Mann im Trikot ganz reglos. Draußen, als er abends zurücklief, war es Sommer und nichts mehr von der Kälte übrig.

Ab da war er oft in der Halle, fast täglich, öfter als normal. Seine Beine mussten arbeiten, es gab keinen Tisch mehr, stattdessen den Mann im Trikot. Es ging schneller auf dem glatten Boden, das Tanzen ging leichter. Es war immer warm in der Halle, es gab keinen Wind. Wenn er allein war, klappte er eine Seite der Platte hoch. Er spreizte die Beine, spannte den Körper an und begann zu zählen. Dasselbe tut er auch jetzt. Er nimmt seinen Schläger und steht von der Bank auf, auf der er gesessen und geplant hat. An der Wand hängt ein Spiegel, daraus schauen ihn seine Augen an. Es sind keine fremden Augen, keine roten, es sind seine Augen. Draußen hört er die Stimmen und seinen Namen aus dem Lautsprecher. Als er sich in Bewegung setzt, schauen ihm keine roten Augen nach, und er lehnt sich gegen die Tür, um sie zu öffnen, und als er nach draußen tritt, hört er gar nichts mehr.

März 2014