Tomaten

Ein Tier hat die Tomaten gefressen. Er nimmt die kleinen, grünen, die noch übrig sind, entnimmt die Samen und vergräbt sie in der Erde. Darauf gießt er Wasser aus dem Eimer. Mit den Knien in dem weichen Boden, sitzt er reglos im Beet und schaut auf den feuchten Fleck brauner Erde. Gestern hat er die Tomaten noch betrachtet, ihre helle Farbe, die bald dunkelrot sein würde, noch eine Woche, und er würde seine eigenen Tomaten essen. Er bleibt sitzen, bis die Sonne die Erde getrocknet hat. Zurück bleibt harte, braune Erde. Als er aufsteht, drei Schritte macht zu dem Johannisbeerbusch, die Beeren pflückt, so viele, wie in seine Hand passen, und zurück in den Schatten der Hütte kehrt, hört er auf die Geräusche, die er macht. Erst sie versichern ihm, dass er wirklich hier ist.

Er hat die Stadt verlassen, weil er dachte, er wäre wie eine seltene Pflanze, die in dieser Umgebung nicht wachsen könnte. Zu gehen, war eine Entscheidung, die er über eine lange Zeit traf, vielleicht sein ganzes Leben hindurch, bis es sehr einfach war, die Sachen zu packen, zu nehmen, auf was er nicht verzichten konnte, den Fuß auf den Pfad hinter der Stadt zu setzen und nicht mehr umzukehren. Oben auf dem Berg, kurz vor der Kuppe, fand er eine Lichtung, abseits des Pfades, die wählte er. Er spürte das Gras an seinen Beinen, den Wind auf seiner Haut, und das Rascheln der Bäume in seinen Ohren wie kühles Wasser, und in diesem Augenblick war er sicher, an diesem Ort seine Wurzeln schlagen zu können.

Nachdem er die Beeren gegessen hat, spürt er den Hunger wie ein großes, schwarzes Loch. Mit jedem Tag wird es größer, und wenn er die Augen schließt, sieht er vor sich die Leere und verzweifelt, weil sie unmöglich zu stopfen ist, und hat Angst, dass seine Beine nachgeben und er fällt. Seit er hier ist, wurde er kein Mal satt. Schon das Aufstehen jetzt bereitet ihm Mühe. Zehn Schritte sind es von dem Eingang der Hütte bis zum Wald. Dann spürt er den Waldboden unter den dünnen, abgelaufenen Sohlen seiner Turnschuhe, und die Stöcke, Steine, Wurzeln, Berge und Täler und Löcher, an die er so gewohnt ist, die er kennt. Er muss nicht nach unten schauen, um sich zu vergewissern, dass er sicher geht, und den Untergrund nach Hindernissen abzusuchen, seine Füße finden allein den Weg, so sicher und lautlos bewegen sie sich auf der Erde, dass sie vielmehr Pfoten sind, und wie er so läuft, die Beine eingebogen und angespannt, um bei Gefahr sofort loszuspringen, den Rücken geduckt, den Kopf nach vorn gestreckt und die Augen ohne Pause nach allen Seiten starrend, ist er tatsächlich ein Tier auf der Suche nach Beute. Er hat die Nase nach vorn gestreckt, erhoben und saugt regelmäßig in tiefen Zügen die Waldluft ein, in der Erwartung, jeden Moment seine Beute zu riechen. Schließlich findet er Beeren, rote, er isst den ganzen Strauch leer, sie sind saftig, weich und süß, mit den Knien auf der dunklen Erde, in der Nase den Duft der Beeren, der seinen ganzen Kopf ausfüllt, sagt er laut, euch Beeren gibt es nicht in der Stadt, euch kann man nicht finden auf dem Weg aus Asphalt, euch gibt es nur hier. Danach spürt er das schwarze Loch innen kaum mehr, und als er aufsteht, ist die Angst, umzufallen, verschwunden. Aufrecht, mit großen Schritten, geht er zu seiner Hütte und beginnt mit der Arbeit.

Er muss oft an den kleinen Pfad denken, der nicht weit weg von der Hütte durch die Bäume führt und nach kurzer Zeit zu dem breiten Weg stößt, und es geht bergabwärts und wird schon bald zur asphaltierten Straße, flankiert von Häusern aus Stein, die nach ein paar Metern um die Ecke biegt, und dort ist eine Bäckerei. In einer Viertelstunde könnte er dort sein, wenn er sich beeilte. Es gibt frisches Brot, er könnte warmes, duftendes Brot kaufen. Dort stehen auch Stühle, aus Plastik, mit Polstern, auf die er sich setzen und gleich essen könnte. Es wäre das erste Mal, dass er wieder satt würde, seit er die Stadt verlassen hat. Und vielleicht würde er sich sagen, dass es ein Fehler gewesen war. Vielleicht würde er sitzenbleiben und sich bewusst werden, dass er sich geirrt hatte. Er würde nicht mehr zurückgehen. Der Gedanke verursacht ihm Unruhe. Bei der Arbeit ermatten plötzlich seine Arme und werden so schwer, dass er sie kaum oben halten kann. Er muss gegen den Drang ankämpfen, sich auf die Erde zu legen und einfach so liegenzubleiben, als wäre er nicht mehr da. In diesen Momenten ist er froh über die Vögel, die nie schweigen, auch in der Nacht nicht.

Die Arbeit im Beet ist anstrengend, weil die Sonne schon am Morgen heiß und sengend scheint. Nach kurzer Zeit ist die Haut so warm, dass es nicht mehr auszuhalten ist und er in den Schatten der Hütte muss. Dort ist dieselbe dicke, erdrückende Luft, aber das Dach hält die Sonne ab. Mit Wasser aus dem Bach gießt er die Erdbeeren und Karotten. In drei Reihen pflanzt er die Kartoffeln. Mit dem Korb durchsucht er den Wald nach Bucheckern für selbstgemachtes Brot. Mittags, wenn die Hitze am stärksten ist, setzt er sich wie gewohnt am Waldrand unter den Baum mit der dicken Wurzel, die krumm aus der Erde ragt. Er legt die rechte Hand auf ihr glattes, makelloses Holz und vergeblich versuchen seine Finger, sie zu umschließen. Heute isst er vier Karotten, letzte Woche geerntet. Danach bleibt er sitzen, mit geöffneten Augen, und stellt sich vor, seine Beine wären Wurzeln. Er versucht, sich nicht zu bewegen, so ruhig zu sein wie der Baum an seinem Rücken. Und Stück für Stück, langsam, spürt er, graben seine Beine sich in die Erde, vorsichtig zwischen Steinen hindurch, auf der Suche nach Wasser, und da spürt er den ersten kühlen Tropfen und weiß, er ist auf dem richtigen Weg. Sein Bauch, sein Rücken und seine Brust sind der Stamm. Allmählich bildet sich die Rinde. Mit jedem Atemzug wird seine Haut dicker, rissiger, schützender. Auf seinem Kopf sprießen die Haare, in alle Richtungen und sie jeden Augenblick wechselnd, sich windend, drehend, verflechtend, alle mit dem gleichen Ziel, sich weit nach außen zu strecken, und danach streben sie atemlos und recken sich ein letztes Mal, bevor sie erstarren, Ruhe einkehrt und sie sich im leichten Wind wiegen. Er spürt sie auf seinem Kopf, seine Äste. Er muss aufpassen, dass er nicht das Gleichgewicht verliert.

Da ertönt ein Geräusch, ohrenbetäubend in der Stille, es hört sich an wie ein riesiges Insekt, demgegenüber Widerstand zwecklos ist. Erst nach einem kurzen Moment, in dem er nicht weiß, ob er wach ist oder träumt, versteht er, dass es ein Flugzeug ist, das den Himmel über ihm kreuzt. Er denkt plötzlich an die Menschen, die in ihm sitzen, Menschen wie er, und dass er hier unten ist und sie dort oben unerreichbar für ihn, er verspürt den starken Drang, aufzuspringen und sich abzustoßen und mit beiden Händen an die Triebwerke zu klammern, um mit ihnen zu kommen. Das ist aber unmöglich. Hier im Wald, hier auf seiner Lichtung, wo sein Beet ist, in dem er sein eigenes Gemüse anbaut, seine einzige Nahrung, und seine Hütte, selbstgebaut aus Brettern aus Holz von Bäumen, die er im Wald gefällt hat, gibt es keine Flugzeuge. Er schaut nach oben und sieht einen kleinen, schwarzen Punkt, und er ist ein unbekanntes Flugobjekt aus einer fremden Welt. Hier darf es gar keine Flugzeuge geben, denn dann muss er daran denken, dass die Menschen längst fliegen können. Er hört das Geräusch, lauscht ihm nach, bis es verstummt. Dann erst bemerkt er die Schmerzen in seinem Rücken von der harten, rauen Rinde, an der er lehnt, in seinen Beinen, weil sie so lange angewinkelt sind und die Erde hart ist. Auch sein Kopf tut weh, weil er sich gerade etwas vorgemacht hat, nämlich dass er ewig hier würde sitzen können wie ein Baum, weil er Wurzeln geschlagen und endlich Ruhe gefunden hätte. Er kann nicht länger so sitzenbleiben. Er steht auf, geht zu der Hütte und fängt an, das Dach zu reparieren.

Vor ein paar Tagen hat es so stark geregnet, dass die Dachbalken auseinandergebrochen sind. Er wachte auf von dem Wasser in seinem Gesicht. Als er sah, was geschehen war, wusste er, er konnte nichts tun bis zum Morgen. Unter einem Baum, mit seinem Schlaftuch, dass schwer war vom aufgesaugten Wasser, wartete er, bis es hell genug war. Dann holte er die Axt aus der Hütte und begann, Bäume für neue Balken zu fällen.

Manchmal wünscht er sich eine Stimme, die seinen Namen ruft. Sie brauchte ihn nur beim Namen zu rufen, und er würde sich umdrehen und loslaufen, den Pfad entlang, den breiten Weg bergabwärts, auf die Straße aus Asphalt, zwischen die Häuser, zurück in die Stadt. Es bleibt aber still bis auf die Vögel, die nie schweigen.

Gelegentlich stolpert er über Wurzeln, die aus der Erde ragen. Gerade eben noch sehen seine Augen alles, was ihn umgibt, geduckt bewegt er sich vorwärts, den Körper angespannt, empfindlich für die geringste Gefahr, seine Füße lautlos wie Pfoten, denn sie kennen diesen Boden. Es ist sein Boden, er gehört auf diesen Boden, er lebt hier. Plötzlich stürzt er, es ist, als stellten die Bäume ihm ein Bein, und auf der Erde, nach dem Aufprall, ist er nur ein Mensch, der sich verirrt hat, ein Mensch aus der Stadt. Und wenn er aufsteht und weitergeht, ist der Boden unter seinen Füßen fremder Boden.

Es ist Nacht und heute stehen keine Wolken am Himmel. Er sitzt vor der Hütte, denn er fürchtet sich davor, die Augen zu schließen und keinen Schlaf zu finden, und schaut geradeaus in die Dunkelheit und manchmal nach oben. Nach einer Weile steht er auf. Er läuft vorwärts, weg von der Hütte, zwischen den Beeten hindurch, die er nicht sehen kann, aber er kennt den Weg genau. Als er Gras an seinen Beinen spürt, bleibt er stehen. Mitten auf der Lichtung, im hohen Sommergras, aufrecht, der Kopf nach hinten geneigt, steht er. Wenn er zum Himmel schaut zwischen die Sterne und den Blick senkt und vor sich die große, schwarze Dunkelheit sieht und die Arme hebt und nichts sieht, ist es fast so, als wäre er nicht mehr auf der harten, steinigen Erde, sondern zwischen den Sternen in dem großen, schwarzen Nichts. Er spürt das Gras an seinen Beinen, die warme Luft auf seiner Haut, und das Zirpen der Grillen in seinen Ohren wie Musik aus einer anderen Welt, und hier gehört er hin.

Juni 2014