Die Banalität des Bösen

Von Hannah Arendts kontroversem Bericht über den Eichmann-Prozess 1961 hat jeder schon einmal gehört, und sei es auch nur den spektakulären Rahmenbedingungen dieses Prozesses geschuldet, für dessen Zustandekommen der Angeklagte erst entführt werden musste. Eichmann organisierte die Deportationen der Juden aus ganz Europa zu den polnischen Vernichtungszentren. Wenn es um die verheerenden Effekte blinden Gehorsams geht und um die Frage, wie erschreckend lautlos aus einem unbescholtenen Bürger ein Massenmörder werden kann, wird gerne Eichmann als Beispiel angeführt.

Aus meinen Halbinformationen über Eichmann ergab sich das vage Bild eines Mannes, dessen hervorstechendstes Merkmal seine Normalität war. Ich ging also mit der Hypothese an das Buch heran, dass aus einem normalen, ,,braven‘‘ Menschen unter den ,,angemessenen‘‘ Bedingungen ein Massenmörder werden kann, eine Hypothese, die übrigens gar keinen Originalitätswert mehr besitzt, da sie längst bestätigt worden ist in Experimenten wie dem von Stanley Milgram (1963) oder im Stanford Prison Experiment. Was ich mir von Hannah Arendts Analyse erhoffte, war, mehr darüber zu erfahren, warum genau Eichmann so gehandelt hat, wie er gehandelt hat.

Leider finde ich ihr Buch in Bezug auf diese Frage unbefriedigend. Auf vielen Seiten erläutert sie die politische Entwicklung bis zur ,,Endlösung der Judenfrage‘‘ und deren Umsetzung in den einzelnen Ländern, doch wer sich dafür interessiert, ist besser beraten mit anderen Darstellungen (z.B. Laurence Rees, Auschwitz). Immerhin war Hannah Arendt keine Historikerin, und so sind ihre historischen Schilderungen nur begrenzt verlässlich. Den ,,Führerbefehl‘‘ vom Juli 1941, von dem sie spricht, der ein für allemal die Vernichtung des gesamteuropäischen Judentums angeordnet hätte und hinter dem sich Bürokraten wie Eichmann hätten verstecken können, gab es nie. Das Diabolische des Holocaust war ja gerade, dass nicht ein Einzelner an einem bestimmten Tag auf die Idee kam und alle anderen, bloß weil er ihr Chef war, Folge leisteten. Wie Laurence Rees in seinem Buch Auschwitz zeigt, herrschte unter den Nazis viel länger Unklarheit darüber, was mit den Juden geschehen sollte, als bisher angenommen wurde. Die Entscheidung, das jüdische Volk auszurotten, gab es nie, oder vielmehr, sie fand in vielen Schritten statt, getragen von vielen mächtigen und weniger mächtigen Personen, vorangetrieben durch ,,vorbildhafte‘‘ Eigeninitiative, angedeutet bereits in der Aktion T4, hinter der sich der ,,Gnadentod‘‘ für psychisch Kranke und geistig Behinderte und auch Menschen mit nicht mehr als einer Lippen-Kiefer-Gaumenspalte verbarg, organisiert und durchgeführt von den Leuten, deren Obhut die Opfer eigentlich anvertraut waren, von Ärzten, Psychiatern und Krankenschwestern.

Während der Führerbefehl zur Endlösung eine klare Falschinformation ist, liegt es mit Eichmanns ideologischer Ausstattung weniger eindeutig. Arendt vertritt die Meinung, er sei kein überzeugter Antisemit gewesen, die Erklärung für seine Handlungen sei jenseits von Judenhass zu suchen. Widersprechende Äußerungen Eichmanns tut sie als Wichtigtuerei ab, wie die folgende aus den letzten Kriegstagen, er werde ,,freudig in die Grube springen, denn das Bewußtsein, fünf Millionen Juden auf dem Gewissen zu haben, verleiht mir ein Gefühl großer Zufriedenheit‘‘. Fest steht auch, dass er mit Himmlers Versuchen in den letzten Kriegsmonaten, den geschehenen Völkermord gegenüber den Alliierten ,,abzumildern‘‘, indem er beispielsweise Juden aus dem KZ Theresienstadt in bessere Unterkünfte verbrachte, ganz und gar nicht einverstanden war. 

Was ich mir vorher schon dachte (Gehorsam usw.), wurde beim Lesen nicht widerlegt, aber auch nicht ausgeführt. Gerade Eichmanns Pflichtbewusstsein und Treue – im Allgemeinen positiv besetzte Eigenschaften – wurden ihm zum Verhängnis. Wenn seine Vorgesetzten ihn mit der Aufgabe betrauten, Männer, Frauen und Kinder in Millionenzahl in ihren Untergang zu schicken, dann kam er dieser Aufgabe als Musterbeispiel der Arbeitsethik nach. Es ist anzumerken, dass er nie grausamer war als nötig, überhaupt fand seine Tätigkeit – in seinen Augen – jenseits von Grausamkeit oder Menschlichkeit statt, sie haben in einer Bürokratie, die funktionieren will, nichts verloren. So wie es Gebot war, kein Mitleid mit den Opfern zu haben, so war es ein Verbot, sie ,,unnötig‘‘ zu quälen. Wann immer im Prozess ein Zeuge eine neue Greueltat der SS in den Lagern zur Sprache brachte, reagierte Eichmann empört. Fernab von niederen Motiven hatte er nur seine Arbeit getan, für reibungslose Transporte gesorgt und permanent an deren Effizienzsteigerung gearbeitet. Nur so würde er sauber und unschuldig bleiben können. Er versicherte denn auch vor Gericht, ,,daß ihm nur eins ein schlechtes Gewissen bereitet hätte: wenn er den Befehlen nicht nachgekommen wäre und Millionen von Männern, Frauen und Kindern nicht mit unermüdlichem Eifer und peinlichster Sorgfalt in den Tod transportiert hätte‘‘.

Wo war sein Gewissen? War, nein, ist es so einfach, sein Gewissen abzuschalten, sozusagen aufs Abstellgleis zu stellen? Oder folgte er gerade seinem Gewissen, indem er Autoritäten stets gehorsam blieb und nie anzweifelte? War vorbildliches Verhalten am Arbeitsplatz wichtiger als der Schutz von Millionen Menschenleben?

Indiz für das Vorhandenseins eines Gewissens bei Eichmann ist ein Vorfall, bei dem er die Wahl hatte, einen Transport entweder ins polnische Lodz zu schicken, wo, zumindest fürs Erste, nicht der sichere Tod auf sie wartete, oder weiter in den Osten zu den Massenerschießungen. Eichmann wählte Lodz, obwohl er wusste, dass sie dort mit erschöpften Aufnahmekapazitäten kämpften. Sein Gewissen währte drei Wochen; dann erreichte er, dass die ,,Einsatzkommandos‘‘ im Osten ,,Juden mit hineinnehmen‘‘. 

Ihm war von Anfang an klar, dass er Menschen in den Tod schickte. Und doch nahm er es einfach so hin, als läge der Gedanke völlig ab vom Schuss, dass er daran etwas ändern könnte. Diese Indifferenz angesichts eines Völkermords, dieses Schulterzuckende teilte Eichmann mit einem Großteil der deutschen Bevölkerung. Selbstverständlich war es ihm ein Herzensanliegen, sich nicht selbst die Hände schmutzig zu machen, und seine Tätigkeit als Berichterstatter von Massenerschießungen und Konzentrationslagern wollte er schnell wieder loswerden. Nie hat Eichmann an einen anderen Menschen Hand angelegt. ,,Ich habe nie einen Juden getötet, aber ich habe auch keinen Nichtjuden getötet – ich habe überhaupt keinen Menschen getötet. Ich habe auch nie einen Befehl zum Töten eines Juden gegeben, auch keinen Befehl zum Töten eines Nichtjuden, auch das habe ich nicht.‘‘

Während konventionelle Gesellschaften wie die unsere davon ausgehen, dass Menschen von bösen Trieben versucht werden, denen nachzugeben das Gesetz unter Strafe stellt, verhielt es sich in der nazistischen Gesellschaft verkehrt herum: Menschen hatten von Natur aus Hemmungen, zu töten, und um gute Mitglieder der Gesellschaft zu sein, ja um dem Fortschritt nicht im Weg zu stehen, galt es, diese Hemmungen über Bord zu werfen. Menschliche Schwäche war hier nicht die Lust zu töten, sondern, im Gegenteil, Mitgefühl mit den Opfern zu haben. Paradoxerweise gingen die Nazis von einem positiveren Menschenbild aus als sozialere Gesellschaften: Das Böse war nichts, was unterdrückt werden musste – es musste antrainiert werden. In den Worten Himmlers, des Chefs der SS, die die Konzentrationslager führte: ,,Dies durchgehalten zu haben und dabei – abgesehen von Ausnahmen menschlicher Schwäche – anständig geblieben zu sein, das hat uns hart gemacht. Dies ist ein niemals geschriebenes und niemals zu schreibendes Ruhmesblatt unserer Geschichte.‘‘ In der Tat war die SS ein fein auserlesener Haufen, der sich rein hielt von Abnormalen wie Kriminellen und in dem Akademiker überproportional vertreten waren. Nicht ihre Opfer hatten Mitleid verdient, sondern sie, die diese belastende Arbeit auf sich nahmen für Deutschland und für das deutsche Volk.

Ganz richtig stellt Hannah Arendt fest, dass es nicht Aufgabe des Gerichts ist, den Angeklagten zu verstehen, sondern zu einem gerechten Urteil zu kommen. Besser verstehen tut man Eichmann nach dem Lesen ihres Buches auch nicht. Gibt es eventuell gar nichts zu verstehen? Hoffen wir, irgendwann endlich auf dieses ,,gewisse Etwas‘‘ zu stoßen, dass es auf einmal ,,Klick‘‘ macht und uns die Augen geöffnet werden, dass wir sagen können, aha, darum, deshalb ist ein vorher komplett unauffälliger Mensch zum willfährigen Helfer eines Völkermords mutiert? Dass es dieses ,,gewisse Etwas‘‘ nicht gibt, dass es da gar nicht so viel mehr zu verstehen gibt, dass es so einfach ist, von anderen und von einem selbst unbemerkt auf die Seite des ,,Bösen‘‘ zu wechseln, wäre in der Tat beunruhigend.

Vielleicht sollte man nicht immer danach fragen, warum normale Menschen auf einmal zu Mördern wurden und weshalb so viele Menschen zu ihren duldsamen Helfershelfern. Und stattdessen fragen, warum es immer, in jeder Diktatur, unter jedem Unrechtsregime Einzelne gibt, die nicht gehorchen. Was unterscheidet sie von all den anderen? Welche Faktoren schützen einen davor, ein neuer Eichmann zu werden?