
Vor ziemlich genau 56 Jahren irgendwo an der englischen Küste beginnt für ein frisch verheiratetes Paar die Nacht, die sein Schicksal entscheiden wird. Mit Edward, 22-jähriger Geschichtsstudent, und Florence, leidenschaftliche Geigerin, nehmen wir Platz am – sozusagen – letzten Abendmahl in der Hochzeitssuite eines Strandhotels. Doch Rindfleisch (doppelte Portion für ihn), Cheddarkäse und Pfefferminzschokolade werden überschattet von der drohenden Gegenwart des Himmelbetts direkt nebenan. In dieser Arena wird ,,es‘‘ passieren, das wissen beide, auch wenn sie nur eine ungefähre Vorstellung davon haben, was ,,es‘‘ sein soll. Das Himmelbett wartet wie ein Schafott, nach dem alles anders sein wird. ,,Seit mehr als einem Jahr war Edward von dem Gedanken daran wie benommen, dass der empfindlichste Teil seiner selbst an einem bestimmten Tag im Juli für eine gewisse Zeit, und sei sie noch so kurz, in der natürlichen Höhlung dieser fröhlichen, liebenswerten und so außerordentlich intelligenten Frau weilen würde.‘‘
Die Liebenden in Ian McEwans Roman ,,Am Strand‘‘ (der nun auch verfilmt wurde) leben in einer Zeit der Sprachlosigkeit für das, was zwischen (Ehe-)Frau und -Mann passiert. Für beide ist es die erste sexuelle Erfahrung, auch wenn Florence überzeugt ist, ihr Mann kenne sich bereits bestens aus. Im Jahr 1962 ,,empfand man Jungsein noch als Bürde, als ein Kainsmal der Bedeutungslosigkeit, einen leicht peinlichen Zustand, der mit der Hochzeit ein Ende fand‘‘. Ein Lachen außer Kontrolle geraten zu lassen, einem Gefühl zu sehr nachzugeben oder gar seine Begierden und Gelüste zuzulassen, war noch untrennbar mit moralischem Makel und fehlender Reife verbunden. Die mit aller Gewalt ins Korsett der kirchlich abgesegneten, monogamen, heterosexuellen Ehe gezwängte Sexualität sollte stattfinden, aber bitte so, als ob es sie nicht gäbe. Dem jungen Ehepaar fehlen schlicht die Worte, über das zu sprechen, was nun ansteht.
Immer wieder wechselt die Erzählperspektive zwischen Edward und Florence. Eine der Stärken dieses Buches ist die Einfühlsamkeit, mit der der Erzähler in den Körper der Frau zu schlüpfen vermag. Und schnell wird klar, dass eine gravierende Kluft zwischen ihren Wahrnehmungen herrscht, dass die Einschätzung Edwards von Florence‘ Erleben ihr wahres Fühlen und Denken gefährlich verfehlt.
Ein Jahr lang hat Edward auf diesen Moment hin gefiebert – ein Jahr voll der Zurückhaltungen, Entbehrungen, Rücksichtnahmen und Rückschläge, eine Zeit, messbar in den Etappen, in denen er den Körper dieser intelligenten, jungen, hübschen Frau erschließen durfte: Der erste Kuss nach drei Monaten, zwei weitere Monate später dann mit Zunge; als er nach über einem halben Jahr im Kino versucht, ihre Hand in seinen Schoß zu legen, wirft ihn das um Monate zurück; bis jetzt durfte er erst ein einziges Mal ihre nackten Brüste berühren. Auch wenn er nicht so recht weiß, wie er es anstellen soll, am Abend seiner ersten Nacht als Ehemann ist er absolut sicher, was er will.
Und genau davor graust es Florence fatal. Was für ihn elementarer Bestandteil der Liebe ist – die körperliche Komponente -, würde sie höchstens in Kauf nehmen, um ihre Liebe nicht zu gefährden. In einer idealen Welt könnte sie neben Edward liegen ohne das ständige Gefühl, ihn zu enttäuschen und ihm etwas vorzuenthalten; sie könnten Händchen halten, ohne dass seine Hand zwangsläufig an andere Orte wanderte; und wie der zuckende Muskel eines anderen wühlend im eigenen Mund Vergnügen bereiten soll, wird ihr auf ewig ein Rätsel bleiben. Nicht bloß die Lust- und Sexualfeindlichkeit der Gesellschaft, in der sie lebt, sind Grund für ihren tiefsitzenden Ekel; schließlich haben ihre Freundinnen, jedenfalls die, die verheiratet sind, Spaß an den ,,Pflichten einer Ehefrau‘‘. Nein, Florence ist überzeugt, etwas Grundlegendes könne mit ihr nicht stimmen. Wenn sie Edward doch nur heiraten und jene lästige kleine Klausel im Ehegelübde – ,,Mit meinem Leib verehre ich dich!‘‘ – einfach umgehen könnte. Doch mit jeder Sekunde rückt der Augenblick näher, da ihre ,,Abnormität‘‘, ja ,,Perversität‘‘ zum Vorschein kommen muss. Wozu dieses Bett – ein ,,ziemlich schmales Himmelbett, dessen Überwurf so makellos weiß und so erstaunlich glatt gestrichen war, als hätte ihn nie eine Menschenhand berührt‘‘ – wozu dieses Bett bestimmt ist, erscheint unvermeidlich, und zugleich ist Florence überzeugt, dazu außerstande zu sein.
Beide wird diese Nacht an ihre Grenzen bringen: Edward, weil er sich nicht länger zurückhalten kann und will; Florence, weil sie das, was er sich am sehnlichsten wünscht, nicht geben kann. Ohne jeden Zweifel sind sie füreinander bestimmt, doch auf tragische Weise auch dazu verurteilt, sich zu verpassen.
McEwan widmet diesem Paar einer unwiederbringlich vergangenen Zeit ein Buch, und dieses Buch erzählt eine sehr einfache und auch, aber nicht nur deshalb starke Geschichte voller schnörkelloser Kraft. Ihm gelingt die einzige und unfassbar komplexe Aufgabe eines Romans: Ein Stück Leben zu erzählen. Nie im Leben hätte ich an zwei frisch verheiratete Eheleute irgendwo in England vor einem halben Jahrhundert gedacht; jetzt weiß ich von ihnen. Es gab sie, ich durfte teilhaben an ihrem Schicksal. Und so wie es einen ungeheuren Reichtum an Schicksalen gibt, die im Kleinen stattfinden, aber deshalb nicht weniger episch sind als die ausgewählten ausgestellten, genauso zeigen Bücher uns den Weg, zuzuhören, hinzusehen und in diesem Reichtum die ein oder andere Geschichte zu entdecken.
Im Hintergrund ihres Ringens mit sich selbst und miteinander klirrt der Wind mit den Kieseln des Strandes. Ein englischer Abendhimmel filtert das Licht und taucht das Strandhotel in eine latent bedrohliche Vorsturmstimmung. Wie es da liegt, wirkt es auf eine heimelige, bergende Weise verloren. Und der Umbruch liegt zum Zeitpunkt dieser Nacht bereits in der Luft wie der Schwefelgeruch einer Zündschnur, der Aufbruch in eine freie Welt, in der nichts mehr so sein wird, wie es war. In der eine Geschichte wie die von Edward und Florence undenkbar wird.
Dieses Buch konserviert ihre Geschichte. Und sei es auch nur, um durch diesen Kontrast unsere Gegenwart klarer zu sehen.
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