Der Erleuchtete

Ich habe nichts gegen non-binäre Menschen. Ich weiß, das klingt verdächtig. So wie der Rassist, der sagt, er habe nichts gegen Schwarze, ein paar seiner Freunde seien sogar schwarz. Ich habe keine*n non-binären Freund*in, aber ich finde es gut, dass wir das traditionelle Geschlechterkonzept infrage stellen. Ich freue mich, dass ich als Mann heute auch meine weiblichen Anteile ausleben darf. Ich wähle links, weil ich den politischen Kampf für Gleichberechtigung für alle, gleich welchen Geschlechts, voll und ganz unterstütze. Und hier liegt das Problem: darf ich Kim de l’Horizon kritisieren?
Ich glaube, dass viele Leute, die sich selbst als liberal verstehen, davor zurückscheuen, de l’Horizon zu kritisieren, aus Angst, ihre Kritik am Inhalt könnte mit Kritik an Kims Non-Binarität verwechselt werden. In diesem Sinne schützt dey deren1 Minderheitenstatus.
Natürlich erlebt eine non-binäre Person täglich Diskriminierung, wie de l’Horizon in der NZZ2 schildert. Angriffe wie jener Faustschlag kurz nach der Verleihung des Deutschen Buchpreises oder die Aussage des SVP-Bundesrats Ueli Maurer, es sei ihm egal, ob sein Nachfolger ein Mann oder eine Frau sei, solange es kein ,,Es“ wäre, sind empörend und müssen Konsequenzen haben. Es ist die Art, wie de l’Horizon über diese Vorfälle schreibt, die mich irritiert. Die demonstrative Art, mit der dey jeglichen Groll auf deren Peiniger leugnet, die mich misstrauisch macht. Nicht nur vergibt de l‘Horizon dem Mann, der dey ohne Grund ins Gesicht geschlagen hat. Dey hat sogar regelrecht ein schlechtes Gewissen gegenüber dem armen Menschen, der, im Gegensatz zu*r Autor*in, nicht studiert hat. Scharfsinnig analysiert de l‘Horizon den wahren Grund, aus dem alte, weiße Männer wie Ueli Maurer etwas gegen Menschen wie dey haben: sie sind neidisch darauf, dass dey auslebt, was sie sich verbieten. Großmütig versichert de l’Horizon dem SVPler, es sei okay, er könne aufhören, sich zu verstellen. Denn, wie de l’Horizon in der Sternstunde Philosophie dem Moderator Yves Bossart erklärt, das binäre Geschlechterkonzept ist ein Regime. In Wahrheit sind wir alle non-binär, wir haben es nur noch nicht gemerkt.3 De l’Horizon kämpft also nicht für die Gleichberechtigung non-binärer Personen, dey stellt sich selbst als quasi Erwachte*r und Erleuchtete*r über uns Verblendete.
Dass de l’Horizon sich als neuer Messias fühlt, stellt dey schon im Titel – ,,Blutbuch“ – klar: dieses Buch wurde mit Blut geschrieben, dieses Buch erzählt eine Passion. Dey bedient unsere Vorliebe für die Geschichte vom Underdog, der mit einem Handicap – niedrige soziale Herkunft und non-binär – geschlagen ist, der sich gegen alle Widerstände durchsetzen muss und am Ende wie der Phönix aus der Asche aufsteigt. Doch worin genau besteht Kims Kampf?
Ständig ist von den ,,Traumata“ die Rede, die Kim endlich ,,heraussprudeln lassen“, von der ,,Scheiße“, die Kim ,,nicht mehr weitergeben“4 will. In immer neuen Variationen verspricht Kim dem Leser, das Unsägliche aufzudecken, und bleibt ihm die Einlösung dieses Versprechens bis zum Ende schuldig. Wir erfahren, dass Kims Vorfahren Hunger, frühen Kindstod und schwarze Pädagogik erlebt haben. Damit dürften sie allerdings nicht allein gewesen sein. Das Traumatischste ist die im Kindesalter verstorbene Schwester der ,,Grossmeer“, die diese Leerstelle nie füllen konnte – tragisch, ja, aber traumatisch?
Es bleibt ein Rätsel, warum Kim seine Großmutter, die dey als Kind betreut, die mit Kim Verkleiden spielt, im Migros-Restaurant essen geht und viel kuschelt, als ,,Monster“ und ,,Spinne“ bezeichnet. Kim hat Wahrnehmungen, die man in der Psychologie als psychotisches Erleben bezeichnen würde. Von der Mutter – die übrigens Geister sehen kann – fühlt das Kind sich immer wieder ohne objektiven Anlass verfolgt, nimmt sie als Hexe wahr, die es umbringen und essen will. Außerdem kann Kim mit Pflanzen und Tieren kommunizieren.
Das magische Denken hat Kim sich als Erwachsene*r bewahrt. Als Yves Bossart wissen will, ob de l‘Horizon im Ernst glaube, deren Gedanken hätten Konsequenzen in der manifesten Realität, behauptet diese*r, die Wissenschaft stehe in diesem Punkt zunehmend auf deren Seite, ohne eine einzige Quelle zu nennen. Es sei doch Beweis genug, dass Bossart in dem Ritual, das dey soeben durchgeführt habe (und bei dem es sich um eine einfache Imaginationsübung handelt), tatsächlich etwas gespürt habe. Wie kann es sein, dass esoterische und anti-aufklärerische Schwurbeleien wie diese beim sogenannten bildungsbürgerlichen Publikum auf offene Ohren stoßen?
Überhaupt nimmt de l’Horizon es mit den Fakten nicht so genau. So führt dey die frankophonen Elemente im Berndeutsch (,,ds Fiseli – der Sohn – le fils“) auf die napoleonische Besatzungszeit zurück und wittert darin die Sprache der Unterdrücker. Obwohl der Austausch zwischen Schweiz und Frankreich – z.B. durch Söldner – viel älter ist und sich das Berner Patriziat lange vorher an Frankreich und Französisch orientierte.5 Analog dazu weiß Kim im Interview den Beginn des binären Geschlechterkonzepts und der männlichen Vorherrschaft in der gräko-romanischen Zeit zu verorten – was dem aktuellen Forschungsstand widerspricht, demzufolge der Übergang von matriarchalen zu patriarchalen Gesellschaften mit dem Übergang vom Nomadentum zur Sesshaftigkeit einherging, der um 10.000 v. Chr. stattfand, lange vor der gräko-romanischen Zeit.6
Es stört de l’Horizon nicht einmal, wenn seine Theorien sich offensichtlich widersprechen. Denn wie passt das zusammen, dass dey sich als Neo-Materialist bezeichnet, d.h. an nichts jenseits von Materie glaubt, doch gleichzeitig an schamanistische Rituale und Gedanken-Manifestation glaubt? Hauptsache, das Gefühl stimmt.
Jurys und Rezensierende haben den Erfolg des Buches unter anderem mit seiner Sprachgewalt begründet. Das stimmt, schreiben kann de l‘Horizon. Man muss kein Popliteratur-Fan sein, um zu erkennen, dass hier eine*r virtuos mit Anglizismen spielt. Diese Passagen machen Spaß zu lesen, und Wortneuschöpfungen wie ,,korpkörperlich“ (analog zu ,,wortwörtlich“) bleiben hängen.
Es gibt aber auch Passagen wie diese: ,,Manchmal sitzt der Peer breitbeinig auf dem Sofa. Die Breitbeinigkeit kommt aber nicht gratis. Er muss ein bisschen von sich abschneiden. Er schneidet sich drei Stunden Stimme ab. Dafür lässt ihm das Haus einen Moment Breitbeinigkeit.“ Noch ein Beispiel gefällig? ,,Das Kind geht in den Garten. Es legt sich auf den Rücken. Es spürt die ganze Erde. Es verwandelt sich. Grr. Hmpf. – Nein. Fertig, Hmpf. Kein Grr. Un-Grr. Unger. Ungeheuer. Sumpf.“ Hä?
,,Wenn wir eine Generationenaufgabe haben, dann (…) ist es diese“, zitiert Bossart im Interview. ,,Die Blutlinie zu durchtrennen und diese Scheiße nicht mehr weiterzugeben.“ – ,,Amen!“, strahlt Kim. ,,Ja, aber was heißt das?“, hakt Bossart nach. Kim, der es nicht gewohnt zu sein scheint, dass einer mal genauer nachfragt, möchte zuerst lieber nicht antworten – dey interpretiere nicht gern die eigenen Texte -, rudert dann zurück – dey sei kein*e Überpopulationsgegner*in – und gibt zu guter Letzt die Binsenweisheit zum Besten, Freunde seien genauso wichtig wie Familie. Es wirkt fast so, als wisse de l‘Horizon selbst nicht so genau, was dey eigentlich sagen wollte.
Als ich von einer non-binären Hauptperson las, die in einem armen Berner Vorort aufgewachsen sei, dachte ich an Édouard Louis. Doch im Gegensatz zu Louis setzt de l’Horizon sich maximal oberflächlich mit der sozialen Herkunft auseinander. Andauernd hadert dey mit der ,,Meersprache“, Schweizerdeutsch. Dabei ist de l‘Horizon wohl nicht d*ie erste Schweizer Autor*in, d*ie auf Hochdeutsch schreibt.
Es geht ein bisschen um soziale Ungerechtigkeit, ein bisschen um Gender, ein bisschen um Rassismus, und Gentrifizierung hakt de l‘Horizon auch noch ab. Wir dürfen zuschauen, wie Kim mit deren woken Freund*innen koschere Zimtschnecken isst und dabei die eigene Wokeness kritisch reflektiert, wie sie ihre Beziehungen öffnen, in der Stadt Wein und Nagellack kaufen, schamanistische Rituale durchführen und rauchend Bourdieu lesen. Kims Freund*innen sind natürlich alle genauso empfindsam und kreativ wie Kim und natürlich ebenfalls zutiefst traumatisiert durch ihre Familien, über die sie ebenfalls autofiktionale Texte schreiben.
Man erfährt in diesem Buch wahnsinnig viel, z.B. über Blutbuchen, nur nicht das, wovon sein*e Autor*in behauptet, dass es ih*r darum gehe: den Finger in die Wunde zu legen. Immer dann, wenn es interessant zu werden droht, lenkt Kim ab. Dass dey wegen einer Essstörung in psychiatrischer Behandlung war, erwähnt Kim nebenbei. Bossarts Frage, wie die Mutter und Großmutter auf das Buch reagiert hätten, möchte de l’Horizon nicht beantworten. Wie passt das zu dem radikal-ehrlichen Anspruch, den de l‘Horizon an den eigenen Text stellt und mit dem de l’Horizon wirbt? Kann man einen Text schreiben, der eigentlich ein Essay ist, in dem man unverstellt die eigene Weltanschauung ausbreitet, und anschließend behaupten, man habe einen Roman geschrieben?
Mich hat das Buch ratlos und orientierungslos zurückgelassen. Nun kann man einwenden, man kann nicht alle Texte mit demselben Maß messen. War es vielleicht gerade die Absicht de l’Horizons, einen Text zu schreiben, der die Leser verwirrt, der also am eigenen Leib erfahren lässt, was es heißt, zwischen den Geschlechtern zu stehen?
Dieser Interpretation widerspricht de l’Horizon vehement. Dey will seine ,,Geschlechterperformance“ als Erlösung vom patriarchalen Regime verstanden wissen, als eine höhere Bewusstseinsstufe. Non-binär zu sein ist viel mehr als eine Frage der Geschlechtsidentität. Indem de l’Horizon es mit schamanistischen Ritualen, ,,Chanten“ usw. verbindet, bekommt das Non-Binär-Sein eine spirituelle Dimension. Das ,,Blutbuch“ kann nur deshalb so erfolgreich sein, weil viele Menschen ohne Orientierung sind – ihnen verspricht Kim de l’Horizon Erleuchtung.
Quellen
- Für die non-binäre Person Kim de l’Horizons werden die neuen Personalpronomen dey/deren/denen benutzt.
- De l’Horizon, Kim: Kim de l’Horizon: «Lieber John Unbekannt, lieber Ueli Maurer, ihr habt mich geschlagen. Aber ich vergebe euch», in: Neue Zürcher Zeitung, 19.10.2022, https://www.nzz.ch/feuilleton/kim-de-lhorizon-fragt-ueli-maurer-warum-bekaempfen-sie-mich-ld.1707890 (abgerufen am 16.01.2023).
- SRF Kultur Sternstunden: Kim de l’Horizon: Schreiben für die Freiheit der Körper, 2022, [YouTube], https://www.youtube.com/watch?v=ZClHb-5Q8Ok.
- De l’Horizon, Kim: Blutbuch, 5. Aufl., Köln, Deutschland: DuMont, 2022.
- Gasser, Markus: Gallizismen im Dialekt – Die «Welschsucht» des Schweizerdeutschen. Schweizer Radio und Fernsehen, in: Schweizer Radio und Fernsehen, 25.05.2022, https://www.srf.ch/radio-srf-1/mundart/gallizismen-im-dialekt-die-welschsucht-des-schweizerdeutschen (abgerufen am 16.01.2023).
- Van Schaik, Carel/Kai Michel: Die Wahrheit über Eva. Die Erfindung der Ungleichheit von Frauen und Männern, Hamburg, Deutschland: Rowohlt, 2022.
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