Am nächsten Morgen melden sich ein paar zum Basketball, einschließlich Nico. Die perfekte Gelegenheit, denke ich, ihm die Bedenken zu erläutern, die mir gestern Abend zu seiner Geschichte doch noch gekommen sind. Ich sehe es schon vor mir: In der frischen Morgenluft auf dem Weg zum Basketballplatz bespreche ich, der vielversprechende Autor und Psychologe, wichtige Eckpunkte meines nächsten großen Wurfes mit der Person, um die es gehen soll, meinem ersten Fall.
Die Realität hilft mir dann rasch auf die Sprünge. Zunächst einmal ist ein Gespräch mit Nico gar nicht möglich, weil Nico nicht abwarten kann, bis wir den Sportplatz erreicht haben, sondern jetzt bereits spielt, als wären wir schon dort. Bitten, erst recht Ermahnungen meinerseits bleiben ohne Wirkung. ,,Keine Angst, Johannes, ich hab’s unter Kontrolle!‘‘, beruhigt er mich, um eine Sekunde später ein Auto zur Vollbremsung zu zwingen. Wie immer, wenn der Überschuss an Energie zuschlägt, wirkt Nico wie ein Boot auf voller Fahrt mit führerlosem Steuer.
Endlich am Sportplatz angekommen, der eigentlich den Pausenhof einer Grundschule darstellt, lässt Nico uns und unser lahmes Basketballspiel links liegen und stürmt, in irrsinnigem Tempo Übersteiger, Finten und Zidane-Wirbel vollziehend, auf den Fußballplatz. Bang verfolge ich seinen Bolzschuss. Bang, weil große Pause ist und der Fußballplatz, auf dem Nico sich austoben möchte, von Kindern wuselt. Als ich das nächste Mal schaue, steht Nico inmitten einer Traube ehrfurchtsvoller Kinder, denen er das Jonglieren beibringt. ,,Schön!‘‘, ruft er und klatscht einem Jungen Beifall, der vier Wiederholungen geschafft hat. Kurz darauf sehe ich ihn seinen neuen Schülern und Schülerinnen kniend und voller Eifer irgendetwas erklären. ,,Und los!‘‘ Auf seinen Ruf hin stürmen alle los, inklusive Nico, und versuchen sich gegenseitig den Ball abzuluchsen. Einer schlägt Nico im Dribbelduell – vielleicht lässt Nico ihn auch siegen, schließlich hat er jahrelang im Verein gespielt -, woraufhin Nico den Kopf in den Nacken legt und ausgelassen lacht. Meine Sorgen wegen Nico sind nicht nur völlig unbegründet, im Gegenteil, er entpuppt sich als ein Naturtalent im Umgang mit Kindern. Zum ersten Mal wirkt Nico mit sich und der Welt im Einklang. Beruhigt konzentriere ich mich auf das Basketballspiel.
Aus dem Augenwinkel registriere ich eine Bewegung, die mich wieder in Nicos Richtung schauen lässt. Gerade rechtzeitig, um Zeuge zu werden, wie er sein Handy zu Boden schmettert.
,,Was machst du?‘‘ Entsetzt lässt Marvin den Basketball fallen und rennt auf seinen Freund zu. ,,Hör‘ auf! Du machst es kaputt!‘‘
,,Ist doch egal.‘‘, kommt von Nico auf eine Art, als amüsierte ihn Marvins Fassungslosigkeit. ,,Das brauch‘ ich nicht mehr.‘‘ Und er hebt das Handy, dessen Display bereits vor Rissen starrt, auf und schickt es mit einem Bilderbuchschwung in hohem Bogen über den Pausenhof.
Der ist mittlerweile – das ist die gute Neuigkeit – leer. All die Kinder sind dem Gong zurück in das dreistöckige Backsteinhaus gefolgt, bis auf einige wenige, die in ausreichender Entfernung schaukeln.
Obwohl Nico derjenige ist, der seinem Handy gerade den Prozess macht, gerät nicht er, sondern Marvin darüber völlig aus dem Konzept. Lautstark appelliert er an Nicos Vernunft, wedelt mit den Armen, um sich irgendwie bemerkbar zu machen, ohne dass Nico Notiz von ihm nähme, bis er sich hilfesuchend zu uns umdreht. Wir können das doch nicht einfach geschehen lassen, scheint sein Blick zu sagen, wir können doch nicht einfach einen Verrückten sein Handy zu Schrott treten lassen. Denn darin liegt der eigentliche Schock: dass das, was wir bisher über Nico zu wissen glaubten, eine entscheidende Information außer Acht gelassen hat, und zwar, wie unberechenbar, das heißt, verrückt Nico wirklich ist.
Auf den Sturm, der sicher fünf Minuten anhält, folgt Stille. Übrig bleiben ein schwarzes Handy, das aussieht wie vom Panzer überrollt, und ein Nico, der alle Viere von sich gestreckt auf dem Asphalt liegt. Das einzige Geräusch ist die Technomusik, die immer noch trotzig aus dem Handylautsprecher plärrt.
Bis zu diesem Moment habe ich bloß aufgehört, Basketball zu spielen, und geschaut. Mehr ist mir nicht eingefallen. Erst der Anblick von Nico, der ähnlich zerstört wie sein Handy auf dem Asphalt liegt, zwingt mich einzusehen, dass eine Reaktion von mir erwartet wird. Die anderen haben sich hingesetzt und blicken betreten zu Boden. Bisher war Nicos Impulsivität ihnen unangenehm, jetzt macht sie ihnen Angst. Obwohl es mich alles andere als in diese Richtung zieht, gehe ich zu ihm.
,,Nico, was war da grad los?‘‘ Ich meine die Frage vollkommen ehrlich, ich bin komplett ratlos, was in den letzten fünf Minuten in Nicos Kopf vorgegangen ist.
Er setzt sich auf, meidet aber meinen Blick. Seine hohe, vorgewölbte Stirn verleiht dem Ausdruck seiner Augen eine zusätzliche Schwere. Es geht ihm nicht gut, das spüre ich an dem Druck, der sich in meiner eigenen Brust bemerkbar macht und das Atmen erschwert. Das sage ich ihm auch: ,,Nico, es geht dir nicht gut. Möchtest du mir sagen, was los ist?‘‘
,,Es geht mir tiptop.‘‘, erwidert er.
Erst jetzt bemerke ich das Blut an seiner rechten Hand; die Splitter des Handys haben ihm Schnitte zugefügt, aus denen dünne Blutrinnsale austreten.
,,Zeig‘ mal her!‘‘, bitte ich ihn. Er hält mir kurz die Hand hin und zieht sie sofort wieder zurück, stützt sich mit den offenen Wunden auf den nackten Asphalt.
,,Schau dich mal an, Nico. Du hast gerade aus heiterem Himmel dein Handy zerstört und dreihundert Euro einfach so aus dem Fenster geschmissen, du liegst völlig k.o. am Boden, als wärst du einen Marathon gelaufen, und deine Hand ist voller Blut. Es geht dir nicht gut, Nico. Und trotzdem behauptest du, es wäre alles in Ordnung. Man könnte fast meinen, du brauchst solche Aktionen, an deren Ende deine Hände zerschnitten sind, um dich zumindest ein bisschen besser zu spüren.‘‘
Nicht nur sein Blick ist weiterhin in die Ferne gerichtet, Nico selbst scheint an einen anderen Ort versetzt, für meine Worte unerreichbar. Stattdessen bewegen sich seine Lippen beinah lautlos, wie ich es schon manchmal bei ihm beobachtet habe, vielleicht zu einer Art Mantra, um sich selbst zu beruhigen, zu leise jedenfalls, als dass ich den Sinn seiner Worte entschlüsseln könnte. ,,Hey, ich geh‘ noch ‘ne Runde spazieren, bis zum Mittagessen.‘‘, sagt er beiläufig und federt sich auf die Beine. ,,Pass!‘‘, ruft er Marvin zu und donnert den Ball gegen das Gitter über dem Tor. Bevor ich diesem abrupten Wechsel hinterherkommen kann, hat Nico ein angeregtes Gespräch mit dem Gärtner angezettelt.
Der Gärtner, ein gedrungener Mann, dessen Gesicht ein Leben unter freiem Himmel bei jeder Witterung bezeugt, findet Gefallen an Nico. Für ihn ist Nico ein junger, aufgeweckter Bursche, der noch Zeit für ein Schwätzchen hat, wie man es bei den jungen Leuten heutzutage immer seltener antrifft. Gut möglich, dass die Lebensfreude und die überbordende Energie, die Nico in jeder Situation, selbst jetzt ausstrahlt, den alten Mann an sein früheres Selbst erinnert.
,,Wo seid ihr denn her?‘‘, erkundigt er sich. ,,Sicher Studenten, oder?‘‘
Ich halte die Luft an. Schon höre ich Nico die ehrliche Antwort geben, wobei er selbst laut darüber lachen muss: Wir kommen aus der Psychiatrie, wir sind nämlich psychotisch.
,,Nein nein, keine Studenten‘‘, sagt Nico nur, und dann eilig: ,,Aber stimmt es, dass man in der Gärtnerausbildung vierhundert Blumennamen auswendig lernen muss?‘‘
Unruhig drehe ich mich immer wieder zu den anderen um, die bereits aufgestanden sind und zurückgehen wollen. Zum Glück versteht der Gärtner meinen Wink und verabschiedet uns mit einem Händedruck. Zehn Minuten dauert der Weg zurück zur Klinik. Wir haben gerade die ersten dreißig Meter zurückgelegt, da lässt sich Nico auf dem nächsten Stein am Wegrand nieder und verkündet: ,,Ich bleib‘ hier sitzen!‘‘
,,Geht ihr schon mal zurück, wir kommen dann nach.‘‘, bitte ich die anderen. Dann wende ich, mich innerlich am Riemen reißend, mich unserem Sorgenkind zu. ,,Ich kann dich hier nicht sitzenlassen, nicht nach dem, was passiert ist. Bitte, Nico, komm‘ nach Hause, da können wir deine Hand verbinden.‘‘
,,Du stehst mir in der Sonne.‘‘, konstatiert er.
Ich beiße mir auf die Lippen und muss meinen Blick auf die Umgebung, weg von Nico verschieben, um die wütende Entgegnung, die mir auf der Zunge liegt, für mich zu behalten. Mir wird bewusst, was für ein Bild wir abgeben, ich die Hände in die Seiten gestemmt vor Nico, der auf seinem Stein sitzt wie seinerzeit Diogenes in seinem Fass, als der König ihm einen Wunsch erfüllen wollte und das Einzige, was der Philosoph wünschte, war: Geh‘ mir aus der Sonne.
,,Weißt du, wie ich mich grad‘ fühle?‘‘, nehme ich erneut Anlauf. ,,Ich fühle mich wie dein großer Bruder oder, noch besser, wie dein Vater, und du steckst gerade in deiner Trotzphase.‘‘
Den Vater baue ich aus einer Eingebung heraus ein, halb in Erwartung, halb aus reiner Neugierde, ob es Nico tatsächlich nicht kalt lassen wird.
,,Du bist nicht mein Vater! Halt‘ deine Fresse!‘‘ Nico steht auf und wechselt einen Stein weiter.
Fünf, vielleicht zehn Sekunden lang ringe ich mit dem Impuls, einfach zurückzugehen und Nico sich selbst zu überlassen. Meine Arbeit sei hier getan, Nico nicht mehr zu helfen. Mein Blick gleitet die sonnenüberflutete Fassade der Schule hinauf und sucht Halt in den Backsteinen. ,,Was für ein Knochenjob!‘‘, fährt mir durch den Kopf, und dieser Gedanke vergnügt mich fast schon wieder ein bisschen, sodass ich mir einen Ruck gebe und die zehn Schritte zwischen mir und Nicos neuem Sitzplatz überwinde. ,,Diogenes Teil 2‘‘, kommentiert eine Stimme in meinem Kopf.
,,Ich kann dich‘‘, sage ich nach ein paar Sekunden Schweigen, damit Nico sich an meine Nähe gewöhnen kann, ,,in deinem Zustand nicht hier sitzenlassen.‘‘
,,Du stehst mir immer noch in der Sonne. Ich hab‘ dich höflich gebeten, mir aus der Sonne zu gehen, wieso stehst du immer noch da!‘‘
,,Also‘‘, wieder gebe ich einem spontanen Einfall nach, ,,sagt dir der Begriff ,Double-bind‘ was? Das bedeutet, der wörtliche Teil einer Botschaft stimmt mit dem non-verbalen Teil nicht überein. Du hast recht, rein vom Wortlaut her hast du mich freundlich gebeten, aber geklungen hat es irgendwie gar nicht freundlich. Das wär‘ so, als ob ich sagen würde: NICO, DU BIST SO EIN NETTER TYP! WILLST DU MEIN FREUND SEIN?‘‘
Die letzten Worte brülle ich ihm mit zusammengezogenen Augenbrauen ins Gesicht. Zu meiner Erleichterung kassiere ich keine Ohrfeige, sondern mein Auftritt erzielt den gewünschten Effekt. Nico muss laut losprusten und gibt mir kumpelhaft die Faust. Ich schlage ein. Während ich es noch kaum glauben kann, setzt er sich in Bewegung Richtung Klinik. Den gesamten Rückweg über schwebe ich auf einer Wolke der Erleichterung, der auch Nicos Schuss schräg über die Straße haarscharf an der Motorhaube eines fahrenden Autos vorbei nichts anhaben kann. Gegen das, was hinter uns liegt, fühlt sich so ein harmloser Verkehrsquerschläger regelrecht wie Urlaub an.
Endlich zurück, muss ich einsehen, dass ich mich zu früh gefreut habe. Anstatt mit hineinzukommen, damit ich ihm die Hand verbinden kann, verzieht Nico sich an den äußersten Rand des Gartens auf seine Lieblingskastanie. Heute Morgen hat er mir bereits die schriftliche Abmachung der gestrigen Behandlungskonferenz, dass er nicht mehr auf Bäume klettern wird, zusammengeknüllt vor die Füße geworfen.
Erst nachdem ich allein ins Haus gegangen bin und Dorothea, der Betreuerin, alles geschildert habe, wage ich es noch einmal hinaus in den Garten. Ich treffe Nico ins Gespräch mit Samuel vertieft. Sobald ich dazukomme, verstummt Nico. ,,Worum geht’s?‘‘, frage ich vorsichtig.
,,Was geht’s dich an!‘‘, fährt er mich an.
Damit habe ich meinen Soll erfüllt, gebe ,,den Fall‘‘ an Dorothea ab und schließe mich mal wieder auf der Toilette ein, bis es Essen gibt.
Im Esszimmer tippt Nico mir auf die Schulter. Wortlos lenkt er meinen Blick zur Wand. Mit klopfendem Herzen nähere ich mich dem undefinierbaren Etwas, das wie ein großer, schwarzer Fleck auf einmal am Kopfende des Esszimmers prangt. Erst als ich davorstehe, identifiziere ich ein schwarzes Handy mit gesplittertem Display, das mit Tape an die Wand geheftet wurde, und darunter auf einem Zettel die Worte: ,,R.I.P. Nicos Handy‘‘.
Mit Nico als Zeuge bekreuzige ich mich vor dem tragischen Opfer.